Der Fall Assange: Die Hoffnung liegt in Genf

Nr. 50 –

Wikileaks-Gründer Julian Assange soll an die USA ausgeliefert werden, hat ein Londoner Gericht letzten Freitag entschieden. In der Schweiz wird die Forderung nach einem humanitären Visum laut.

«Wie wäre es in vier Stunden mit einem Treffen in Genf?» Als Denis Simonet Anfang November 2010 diese Betreffzeile in seinem Mailpostfach sieht, fackelt er nicht lange. Der damalige Präsident der Schweizer Piratenpartei setzt sich zusammen mit dem Vizepräsidenten umgehend ins Auto und fährt los Richtung Südwesten – zu einem Treffen mit jenem Mann, der es kurz zuvor gewagt hatte, sich mit der Weltmacht USA anzulegen, indem er Kriegsverbrechen des US-Militärs aufdeckte: Julian Assange.

«Wir sassen in der hintersten Ecke einer Pizzeria, mit dem Rücken zur Wand. Assange hatte einen Bodyguard dabei und zwei Assistenten. Er sprach anfangs sehr leise und fürchtete offenbar, beobachtet zu werden», erinnert sich Simonet. Tagelang habe er sich damals um ein solches Treffen mit Assange bemüht. «Für uns Piraten war klar, dass es Transparenzplattformen wie Wikileaks braucht. Es ist für Demokratien unerlässlich, dass die Wahrheiten und Ungerechtigkeiten ans Licht kommen – auch gegen den Willen der Mächtigen.» Als Piratenpartei wollten sie Assange und seinen Vertrauten bei Wikileaks das hiesige Rechtssystem erklären, denn Assange überlegte sich, in der Schweiz politisches Asyl zu beantragen. «Er stand damals bereits unter grossem politischem und juristischem Druck. Insbesondere weil ab Sommer 2010 aus Schweden ein Haftbefehl aufgrund von Vergewaltigungsvorwürfen gegen ihn vorlag», so Simonet.

Der Abschreckungszweck ist erfüllt

Elf Jahre später steckt Julian Assange, der seit zweieinhalb Jahren im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh sitzt, in einer verheerenden Situation. Letzten Freitag kippte ein Berufungsgericht in London das Verbot, ihn an die USA auszuliefern, das zuvor wegen des prekären psychischen und gesundheitlichen Zustands des fünfzigjährigen Wikileaks-Gründers bestanden hatte. Die USA wollen Assange wegen Spionage den Prozess machen – im Fall einer (erwarteten) Verurteilung droht ihm eine Haftstrafe von bis zu 175 Jahren. Die Verteidigung kündigte an, die Entscheidung anfechten zu wollen.

Es werden also wohl weitere Monate vergehen, ehe klar ist, wie es weitergeht. In Belmarsh sitzt Assange wegen der angeblichen Fluchtgefahr. Davor war er sieben Jahre in der ecuadorianischen Botschaft in London eingesperrt. Kurz nach dem Urteil letzten Freitag wurde bekannt, dass Assange diesen Herbst vermutlich aus Stressgründen einen leichten Schlaganfall erlitten hatte. Schon zuvor hatte ihm ein psychiatrisches Gutachten akute Selbstmordgefahr attestiert.

Der Fall Assange weist allerdings weit über sein persönliches Schicksal hinaus. «Im Kern geht es um die Pressefreiheit beziehungsweise um deren Erosion», hält Nils Melzer gegenüber der WOZ fest. Der Uno-Sonderberichterstatter, der bei Biel lebt, hat Assange 2019 in Belmarsh besucht und seine Untersuchungen im Buch «Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung» veröffentlicht. «Der Publizist, der systematische Kriegsverbrechen des US-Militärs im Irak und in Afghanistan aufgedeckt hat, wird verfolgt, isoliert und weggesperrt, während die Personen, die jene Verbrechen begangen und befehligt haben, völlig straflos blieben.» An Assange werde ein Exempel statuiert, sagt Melzer. «Unabhängig davon, wie der Fall letztlich ausgehen wird, der Abschreckungszweck der US-Regierung ist längst erfüllt und die Botschaft gesetzt: Wer immer es wagen sollte, unliebsame Wahrheiten ans Licht zu bringen, muss dafür büssen.»

Als Julian Assange Anfang November 2010 in Genf weilte, waren die Machtverhältnisse zwischen ihm und den USA noch unklar. An einer Versammlung des Uno-Menschenrechtsrats sollten damals Foltervorwürfe gegen die USA untersucht werden. Massgeblich weil Wikileaks seit dem Frühjahr Hunderttausende Dokumente zu den US-geführten Kriegen in Afghanistan und im Irak publiziert und dabei auch enthüllt hatte, dass es zu Folterungen und Tötungen von Zivilpersonen durch die US-Armee gekommen war.

Die Schweiz knickt ein

Am Tag vor dieser Uno-Versammlung suchte der Wikileaks-Gründer in Genf bewusst die öffentliche Bühne – und die Konfrontation. Während eines weltweit beachteten Auftritts im Schweizer Presseclub sagte er damals: «Wenn die USA glaubhaft die Menschenrechte verteidigen wollen, müssen sie mutmassliche Menschenrechtsverletzungen untersuchen.» Stattdessen hätten die US-amerikanischen Behörden jedoch gegenüber seiner Organisation eine aggressive Haltung eingenommen. Sie würden öffentlich drohen und versuchten, Wikileaks zu zerstören, so Assange weiter. «Die USA sind dabei, ihren Ruf als Hüterin der Meinungsfreiheit und der Menschenrechte zu verlieren.»

In der Schweiz sorgte vor allem Assanges Aussage für Aufsehen, wonach er sich überlege, in der Schweiz politisches Asyl zu beantragen. Im Interview mit dem Westschweizer Fernsehen (RTS) sagte Assange zudem, dass er sich womöglich auch mit Wikileaks hier niederlassen wolle. Umgehend meldete sich Donald S. Beyer, der damalige US-Botschafter, in der Presse: Die Schweiz werde sehr sorgfältig überlegen müssen, ob sie jemandem, der vor der Justiz flüchte, Unterschlupf gewähren möchte. Die unverhohlene Warnung wirkte. Wenig später verlautbarte SVP-Bundesrat Ueli Maurer im «SonntagsBlick»: «Aufgrund meiner Kenntnis gäbe es keinen Grund, Herrn Assange in der Schweiz Asyl zu gewähren.» Das Vorhaben hatte nie eine ernsthafte Chance. Assange verliess Genf und zog weiter nach London und stellte sich dort der Polizei.

Auch nach dem Urteil von letztem Freitag bleibt der Bund seiner passiven Rolle treu. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) verfolge «den Fall von Herrn Assange seit Jahren aufmerksam» und habe die kürzliche Entscheidung des britischen Gerichts zur Kenntnis genommen, schreibt das Amt auf Anfrage. An der «Ansicht, dass Herr Assange nicht als Menschenrechtsverteidiger bezeichnet werden kann», habe sich jedoch nichts geändert. Auf konkrete Fragen zum aktuellen Urteil sowie zu einem möglichen humanitären Schweizer Visum für Assange geht das EDA nicht näher ein. Stattdessen verweist es auf die aktuelle aussenpolitische Strategie des Bundesrats, in der die Verteidigung der Meinungsfreiheit eine Priorität sei.

Während SVP und FDP die Anfrage der WOZ ignorieren und Mitte und GLP sich nicht äussern wollen, nehmen Grüne und SP kein Blatt vor den Mund. «Dieses Urteil ist ein herber Rückschlag für die globale Pressefreiheit», der zu journalistischer Selbstzensur beitragen könnte, schreibt die SP. Angesichts des prekären gesundheitlichen Zustands von Assange und seiner drohenden Auslieferung an die USA unterstützt die SP den Vorschlag eines humanitären Visums für ihn. Der Genfer SP-Ständerat Carlo Sommaruga hat den Bundesrat schon mehrmals aufgefordert, ein solches zu genehmigen – bisher vergeblich. «Die Schweiz ist beim Schutz der Menschenrechte oftmals fast so heuchlerisch wie die USA: Man setzt sich für Menschenrechte ein, solange dies keinen wichtigen Handelspartner ernsthaft verärgert», kritisiert die SP.

Noch kaum etwas unternommen

Für die Grünen ist das Urteil «ein weiterer Schritt in einer langen Geschichte der Einschüchterung». Eine Auslieferung von Assange an die USA wäre ein schwerer Rückschlag für den Journalismus als vierte Gewalt, sagt Nationalrätin Aline Trede und fordert ebenfalls, dass «Julian Assange ein humanitäres Visum erhalten soll». Die Schweiz, die sich humanitären Werten sowie einer starken Demokratie verpflichtet sehe und einen wichtigen Ort für die Verteidigung der Menschenrechte darstelle, wäre dafür das richtige Land, sagt Trede.

Beide Parteien verweisen auf Genf. Dort hat das Parlament den Regierungsrat im Februar 2020 per Resolution verpflichtet, den Antrag auf ein humanitäres Visum für Assange beim Bundesrat und den zuständigen Behörden einzubringen. Allerdings hat der Genfer Regierungsrat bisher kaum etwas unternommen.

Simonet und seine Piratenpartei wollten Assange und Wikileaks bereits 2010 in die Schweiz holen. «Leider konnten wir ihm das Land damals in der Pizzeria nicht schmackhaft genug machen; er hat meines Wissens nie einen entsprechenden Asylantrag gestellt», sagt Denis Simonet, der heute politisch kaum noch aktiv ist. Sollte der Vorschlag eines humanitären Visums eine realistische politische Option werden, würde er sich dafür einsetzen. Ein solches sei angesichts des aktuellen Urteils dringlicher denn je.