Wichtig zu wissen: Urne, Schwitz und Unterwäsche

Nr. 42 –

Ruedi Widmer über das Wählen und Nichtwählen

Mit den Wahlen zeigt die Schweiz, die älteste Demokratie der Welt (1291 v. Chr.), wieder einmal, wie professionelle Politik funktioniert. Fernab vom britischen Gebrüll im Unterhaus, von deutschen Moralpredigten im Bundestag und der amerikanischen Senatorerei im Senat läuft unsere Demokratie leise und rund wie ein Uhrwerk aus feinster jurassischer Spitze.

Ausgerüstet mit Smartspider, Sackmesser und Cervelat, stürzt sich der Eidgenosse am Wochenende in die Wahlschlacht am Morgarten, mit 54 Prozent Wahlbeteiligung im Blut, und meint, die Welt zu verändern – obwohl es in der Schweiz bei Wahlen darum geht, die Nichtveränderung zu bestätigen, dieses ewige Parlament, das unverrückbar im Alpenglühen dasteht; mindestens so lange, bis das Matterhorn fertig zu Boden gebröckelt ist und in der Gotthardbahn alle Toiletten verstopft sind.

Die Demokratie ist bereits in unseren Genen angelegt. Der Urner hatte schon in der alten Eidgenossenschaft die Aufgabe, die Urnen zu schnitzen, aufzustellen und zu bewachen. Durch diesen hohlen Schlitz musste er kommen, der Wahlzettel. Die Schwyzer wiederum waren die Auserwählten, die wählen durften, so wie heute die Schweizerinnen und Schweizer. Und die Ob- und Nidwaldner mussten das Auf und Ab der Parteien auszählen (während es die Muotathaler Wahlfrösche interpretieren durften: die Keimzelle der Politologie).

Aber alles ist nicht mehr so rosig. Die Wertschätzung gegenüber diesem Erbe fehlt immer mehr. Die Wahlbeteiligung schmilzt in der Schweiz wie der Aletschgletscher, aber niemand will es wahrhaben. Nicht mal eine Schülerin demonstriert vor dem Wahllokal gegen den Wahlwandel. Die einen sagen gar, es sei in der Erdgeschichte schon immer irgendwo nicht gewählt worden, und natürlich haben sie recht, auch wenn sie die Rechten sind.

Immer mehr Nichtwähler zwangen die Behörden schon vor Jahren zur Einführung von Nichtwählerabteilen in den Wahllokalen. Zudem sagen die Gesundheitsfachleute, dem Bluthochdruck sei nur mit Politabstinenz beizukommen. Bestseller wie «Endlich Nichtwähler!» führen die Buchranglisten an. Die Wahlfans versuchen zwar seit Jahren, ähnlich wie die Zigarettenhersteller und die Zeitungsverlage, die Abtrünnigen mit elektronischer Hilfe zurückzuholen. Das sogenannte E-Voting ist die E-Zigarette oder die Onlinezeitung der Demokratie: ein Panikprodukt, mit dem die Leute irgendwie zurückgeholt werden sollen.

Die Realität sieht aber anders aus. Wahllokale werden über kurz oder lang durchweg wahlfrei sein. Die Reinigungskosten sind viel tiefer, auf Stimmenzählerinnen und -zähler kann verzichtet werden, und die mit Stimm- und Wahlzetteln zugemüllten Urnen sind gesundheitsgefährdend, gerade für kleine Kinder, die da hineinlangen. Das Zauberwort heisst Wahltrennung. Die Listen der Parteien können schon vor dem Wahllokal in verschiedenen Abfallurnen entsorgt werden.

Mit dem Wählerrückgang wächst dafür die Politologie. Regula Stämpfli, Michael Herrmann und Claude Longchamp trafen sich vor einigen Jahren auf dem Rütli und schworen, in jeder Zeitung und in jedem Fernsehen aufzutreten und die Nichtveränderung des Parlaments zu analysieren. Die + 1,5 Prozent da, die - 0,8 Prozent dort, das sind Werte, von denen andere Länder nur träumen können; Länder, in denen Parteien plötzlich vierzig Prozent der Stimmen haben, von Idioten geführt werden und bei den Wahlen darauf wieder um dreissig Prozent zurückgehen. Die Stabilität unserer Parteien ist enorm. SP-Mann Christian Levrat ist seit dem Landesstreik 1918 Parteipräsident, Albert Rösti, Präsident der SVP, wurde schon von Albert Anker porträtiert, und Petra Gössi gehört inzwischen zur Schweiz wie die Rigi.

Diese Stabilität wünscht man sich auch bei der Stimmbeteiligung.

Ruedi Widmer ist politischer Ornithologe in Winterthur.