«Atlantique»: Im wogenden Laserlicht

Nr. 44 –

Die jungen Männer fahren aufs Meer hinaus, die Frauen bleiben zurück in Dakar: Regisseurin Mati Diop erkundet in ihrem ersten Spielfilm eine wunderbar mystische Zwischenwelt, die realer nicht sein könnte.

«Du schaust nur aufs Meer hinaus», sagt Ada zu ihrem Liebsten, kurz bevor er geht. Still: Trigon Film

«Wegen dieser Geschichten könnte das Lokal schliessen», sagt die Barfrau etwas genervt, während draussen die Wellen an den Strand rollen. «Die Mädchen kommen wegen der Jungs und nicht, um allein vor dem Spiegel zu tanzen.» Das unangekündigte Verschwinden der jungen Männer: Es ist gängige Realität im Senegal und ein Härtetest für die Zurückbleibenden. Brüder, Freunde und Liebschaften entschwinden nachts auf hölzernen Pirogen, um die lebensgefährliche Überfahrt nach Spanien zu wagen. Und melden sich manchmal nicht mal dann wieder, wenn sie heil dort angekommen sind.

Dass der Bauarbeiter Souleiman (Ibrahima Traoré) mit seinen Freunden abhauen würde, haben wir seit der ersten Szene geahnt. Auf der Baustelle eines futuristischen Turms in Dakar beschweren sie sich verzweifelt darüber, dass sie seit drei Monaten keinen Lohn mehr erhalten haben. Insgeheim hat es wohl auch seine Freundin Ada (Mame Bineta Sane) gewusst: «Du schaust nur aufs Meer hinaus», sagt sie in jener intimen Szene, in der Souleiman sich unausgesprochen verabschiedet, «mich schaust du nicht mal an.» Immer wieder springt verheissungsvoll lockend der Atlantik ins Bild: als dunstverhangenes Versprechen auf Aus- und Aufbruch aus Entwürdigung und Ausbeutung.

Beseelt von den Abwesenden

Obwohl aber Ada mit ihrer Erinnerung an Souleiman allein zurückbleibt, hört dieser Film nicht auf, eine Liebesgeschichte zu sein. Denn Souleiman bleibt in seiner Abwesenheit allgegenwärtig, auch wenn Ada bald den reichen und abstossenden Omar (Babacar Sylla) heiratet, dem sie schon lange versprochen ist. Das ist ihr Spannungsfeld: Da ist die Mutter, die ihr aufträgt, dem Verlobten hörig zu sein. «Weisst du, wie viele Mädchen nur zu gern mit dir tauschen würden?», mahnt sie. Da sind aber auch die von Statussymbolen besessenen Freundinnen, die Ada um ihr gleissendes, kitschiges Ehebett beneiden. Als dieses noch am Hochzeitsabend in Flammen aufgeht, ist plötzlich nicht mehr so klar, ob Souleiman tatsächlich weg ist.

Immer stärker wird die Stadt beseelt von der geheimnisvollen Gegenwart der Fortgegangenen. Was der Detektiv (Amadou Mbow) durch ganz irdischen Ermittungseifer zu beweisen versucht, offenbart sich Ada allmählich in einer übersinnlichen Zwischenwelt, in die wir sie begleiten. Im Soundtrack der kuwaitischen Künstlerin Fatima al-Qadiri vermengen sich schwebende Synthies mit den gezupften Klängen einer Kora, bis sich Dakar in der Abendsonne wie die entrückte Parallelwelt von «Blade Runner» anfühlt.

Dass «Atlantique» in einer betörenden Unaufdringlichkeit daherkommt, dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass Regisseurin Mati Diop sich behutsam an eine Stadt und deren Innenleben herantastet, die bei aller Vertrautheit nicht ihr Zuhause ist. Diop entstammt einer bekannten senegalesischen Künstlerfamilie, der Vater ist Musiker, der Onkel war Filmemacher. Aufgewachsen ist die 37-jährige Regisseurin und Schauspielerin aber in Paris. Nach mehreren Kurzfilmen hat sie mit «Atlantique» ihren ersten Spielfilm realisiert – und damit in Cannes gleich den Grossen Preis der Jury gewonnen.

Komplett reale Mystik

Ist Dakar für «Atlantique» nun austauschbare Kulisse? Der Turm, den eine mutmasslich nahöstliche Firma ins schicke Stadtviertel klotzt, ist jedenfalls Fiktion. Er könnte in irgendeiner afrikanischen Metropole stehen. Und die Figuren, so erklärte Mati Diop in einem Interview, seien angelehnt an Homers «Odyssee». Dennoch ist der Film genau hier im Senegal verankert – und das nicht nur, weil die meisten Figuren von LaiInnen gespielt werden, die in denselben Milieus wie ihre Charaktere zu Hause sind. Sondern auch, weil der Film seinen Ausgangspunkt in einer Geschichte hat, die Diop schon vor zehn Jahren in ihrem dokumentarischen Kurzfilm «Atlantiques» erzählt hat: Sie handelt von jungen Männern, die den oft tödlichen Weg übers Meer gewagt haben. Für den Protagonisten, der aus Europa umgehend zurückgeschickt worden ist und trotzdem bald den nächsten Versuch wagen will, sind die traumatisierenden Erlebnisse auf See zur mystischen Erinnerung geworden – und als solche komplett real. Freunde von ihm seien über Bord gesprungen und hätten sich in Fische verwandelt, er selbst sei faktisch tot. Die Transzendenz seiner Erzählung ist nun Diops Stilmittel in «Atlantique», der filmischen Fortführung seiner Geschichte.

Aber was wollen die Fortgegangenen, wenn sie zurückkehren? Ist es Rache? Das vorenthaltene Geld? Wollen sie die eigene Würde zurück? Oder eine verwehrte Liebe? All das bleibt, wie so vieles in diesem Film, flüchtige Andeutung: die wirtschaftliche Not, die die Männer zum unvermittelten Aufbruch bewegt; der Konservatismus und der Materialismus, von denen die Freundinnen Adas gleichsam in Schach gehalten werden. Als würde all das verschluckt vom rauschenden Meer nebenan, das nimmt und das zurückgibt. Als Ada und Souleiman endlich wieder vereint sind, ist da nichts mehr ausser das Tosen der Wellen und das wogende, grellgrüne Laserlicht der Strandbar – womit Inhalt und Form dieses Films endgültig miteinander verschmelzen.

Atlantique. Regie: Mati Diop. Senegal/Frankreich 2019