«Saint Omer»: Mütter sind Monster (aber überaus menschliche)

Nr. 9 –

Das Phantom auf der Schwelle: In ihrem ersten, preisgekrönten Spielfilm erkundet Alice Diop den Fall einer Mutter, die 2013 ihr Kind getötet hat.

Szene aus dem Film «Saint omer»: Rama (Kayije Kagame) im Gerichtssaal
 Tag für Tag als Beobachterin im Gerichtssaal: Rama (Kayije Kagame).

Eine Mutter tötet ihr Kind. Aber ist sie schuldig? Nein, antwortet die Angeklagte. Da sie nicht verantwortlich sei, trage sie auch keine Schuld. Doch um Antworten geht es nicht in diesem Film. Es seien die Fragen, die sie habe verstehen wollen, sagt Alice Diop, die Regisseurin von «Saint Omer». Und die Frage, die sich im Gerichtssaal mit zunehmender Dringlichkeit ausbreitet, ist tatsächlich nicht die nach Schuld, wie auch am Ende des Verfahrens kein Urteil stehen wird.

Der Kindsmord hat eine lange Geschichte des Entsetzens, das stets von neuem seine «cause célèbre» findet. Hier ist es der Fall der Fabienne Kabou, die 2013 ihre fünfzehn Monate alte Tochter Adelaïde, genannt Ada, im nordfranzösischen Badeort Berck-sur-Mer im Ärmelkanal ertrinken liess. Nicht zufällig sollte sich während des Prozesses, der drei Jahre nach der Tat im Städtchen Saint-Omer stattfand, viel Neugier auf die Einzelheiten dieses Akts richten: Wann genau? Wo genau? Wie genau? In der Nacht, kurz vor der Flut, am Strand niedergelegt. Als wäre im Kern des Ereignisses auch der Kern eines Rätsels zu finden, als würde es sich von da aus lösen lassen. Im Film wird der Staatsanwalt die Angeklagte fragen, ob sie ihre Tochter tatsächlich am Strand niedergelegt habe. Oder ob sie nicht doch selbst Schritte ins Wasser getan und das Kind dort in die Wellen habe sinken lassen.

Dieses Meer ist kein Sinnbild

Der Film beginnt mit der Tat, aber er malt sie nicht aus: Wir sehen nicht mehr als eine Frau am Strand, die ihr Kind zum Meer hinträgt. Der harte Schnitt, der diese Szene beendet, ist auch ein Schnitt in der Herangehensweise. Hier wird nicht eine Symbolik ausgebeutet, die sich ja leicht anböte: das Meer, «la mer», von dem sich im Französischen die Mutter, «la mère», nur durch eine kaum merkliche Differenz in der Aussprache unterscheidet, das Meer auch, das nicht nur in der Geschichte der Literatur, sondern auch in der Geschichte der Wissenschaften oft genug für das Fruchtwasser steht, für den Umstand, dass der Mensch als Wasserwesen entsteht. Doch dieses Meer hier ist kein Sinnbild. Es ist ein reales, ein physisches Meer, in dem ein Kind ertrunken ist, an der Nordküste Frankreichs. Dieses Meer steht nicht für die Mutter, vielmehr belegt der Gang der Mutter ans Meer einen Fakt: Es gab ein Kind.

Tatsächlich ist der Zugang in diesem Spielfilm ein dokumentarischer: Das Faktische ist hier nicht Rohstoff für Fiktionalisierung, sondern Material einer Erkundung. Diop, die an der Sorbonne Geschichte studiert und sich als Regisseurin von Dokumentarfilmen einen Namen gemacht hat, bleibt nah am Fall der Fabienne Kabou. Wie diese ist im Film Laurence Coly (Guslagie Malanda) aus dem Senegal nach Frankreich gekommen, um in Paris zu studieren. Sie verliert den Halt, sucht Zuflucht in der Beziehung zu einem um Jahrzehnte älteren Franzosen. Er wird Vater des Kindes, das wie im Fall Kabou ein Mädchen und ein «bébé métisse» ist: Elise, genannt Lili, mit Schwarzer Mutter und weissem Vater. Und auch wie im Fall Kabou tritt die Angeklagte eloquent auf, wählt ihre Worte sorgfältig und selbstbewusst. Es sind Verschiebungen, die den Stoff vom Fall Kabou abheben und diesen zugleich präsent halten: Aus Saint-Omer wird «Saint Omer», gefilmt wurde im tatsächlichen Gerichtssaal von Saint-Omer, der im Film aber nicht Schauplatz von Rechtsprechung wird. Anstelle der Urteilsverkündung folgen auf die Prozessverhandlungen Standbilder eines leeren Gerichtssaals. Etwas anderes hat sich ereignet.

Im Zentrum dieser Verschiebung steht die Figur der Rama (Kayije Kagame): Hochschuldozentin, Schriftstellerin und Tochter einer aus dem Senegal eingewanderten, von Tieflohnjobs und biografischen Traumata gezeichneten Mutter. Rama reist zum Prozess, dem sie Tag für Tag folgt, als wäre in Laurence eine gegenwärtige Verkörperung der Medea zu finden, Urfigur der Kindsmörderin in der antiken Mythologie und also im europäischen Bildungskanon. Rama studiert Medea – gespielt von Maria Callas, inszeniert von Pasolini – abends im Hotel auf ihrem Laptop als ebenso zärtliche wie grausame Rächerin eines Verrats. Aber was, wenn der Kindsmord nicht einem Motiv entspringt? Warum sie getötet habe, wiederholt die Angeklagte Laurence die Frage der Richterin (Valérie Dréville). Sie wisse es nicht und hoffe, dass der Prozess es ihr erklären werde.

Aus dem Fleisch ins Wort

In seiner Theorie des Schwangerschaftsabbruchs führt der französische Soziologe Luc Boltanski die Unterscheidung zwischen der «Zeugung im Fleisch» und der «Zeugung im Wort» ein. Es reicht nicht, dass ein humaner Organismus entsteht, damit ein Kind zur Welt kommt. Dieses muss auch als solches angenommen werden. Man kann «Saint Omer» als die Geschichte eines Kindes lesen, das im Fleisch gezeugt worden und auch nach der Geburt dort verblieben ist. Das Meer, habe sie gedacht, sagt Laurence zur Richterin, werde «seinen Körper» mitnehmen. Und nicht zufällig setzt Diop die Zuschauerin nicht nur dem Blick ihrer Figuren aus, die sie in den Prozessszenen meist frontal in die Kamera sprechen lässt. Sie mutet uns auch deren Körperhaftigkeit zu: wie beim Essen geschluckt wird, wie ein Atem geht. Sie habe, erzählt Laurence, ihre Tochter gestillt, bevor sie sie am Strand niedergelegt habe.

Doch im Fall der Mutter ist Im-Fleisch-Zeugen nicht «nur» Im-Fleisch-Zeugen. Das fügt dieser Film der Theorie Boltanskis hinzu. Es bedeutet, dass eine Frau da ist, die noch nicht Mutter ist, aber auch nie mehr Nichtmutter sein wird. Wie das Kind muss auch die Mutter aus dem Fleisch ins Wort kommen, auch sie muss angenommen werden. «Sie gehört zu mir», sagt Laurence über ihr Kind. Aber wem – oder was – gehört sie selber an?

Tatsächlich zeichnet «Saint Omer» in Laurence das Bild einer Frau, die auf Schwellen steht: nicht hier und nicht dort, da und nicht da, eine «femme fantôme», wie es im Prozess einmal heisst. Und diese Schwellen sind konkret, denn «Saint Omer» erzählt auch die Geschichte der von kolonialer Vergangenheit und rassistischer Deklassierung gezeichneten Biografien, wie sie die Mütter und die Töchter in diesem Film alle prägen. Warum nur habe die Angeklagte partout über Wittgenstein ihre Doktorarbeit schreiben wollen, empört sich eine Dozentin, die als Zeugin vor Gericht auftritt. Warum nicht über etwas, das ihrer eigenen Kultur entstamme. Vielleicht ist in dieser Platzanweisung die Verhexung zu finden, von der die Angeklagte spricht, wenn es um ihre Sinne geht. Doch auf dieser Schwelle, wo sie nicht eingelassen und doch da ist, lässt sie auch die Situation kippen und zwingt alle, die Frage zu ergründen, die an sie gerichtet worden ist: Warum? Sagt ihr es mir.

Mit dem Kind, heisst es, wird auch die Mutter geboren. Bleibt das Kind im Fleisch, so auch sie. Und umgekehrt: Bleibt die Mutter im Fleisch, so auch das Kind. Auf diese Weise sind Mutter und Kind verschlungen, ja vermischt, bevor beide in das Wort kommen – und auch danach. Wie diese Einsicht formuliert wird, sei hier nicht vorweggenommen, die Szene gehört zu den eindrücklichsten des Films. Sicher ist es die erstaunlichste: Anstelle der Symbolik lässt Diop die Biologie der Schwangerschaft sprechen, um auf den Begriff zu bringen, dass bei einer Geburt eine Beziehung auf die Welt kommt, eine unauflösbare Verstrickung von Mutter und Kind. Ausgesprochen wird dies von der Verteidigerin (Aurélia Petit): Wir Mütter sind alle Monster, aber überaus menschliche Monster. Zu begreifen also ist ein universeller Fakt über das Geborenwerden von Menschen, verkörpert in einer Schwarzen Frau, die in der Französischen Republik nicht ins Wort kam, ausgesprochen von einer weissen Frau, die das Wort hat. Das Wir der Mütter bricht den Bann – nicht obschon, sondern indem es sich als ein zerklüftetes Wir zu erkennen gibt.

Man kann diese Szene nicht anders verstehen denn als Vollendung der Geburt des Kindes, das Elise war, und der Mutter Laurence, die im Gerichtssaal sitzt. Sie spiegelt am Ende des Films die Meerszene vom Anfang, indem sie die Frage des Warum zurückgibt: nicht als eine des Motivs, noch viel weniger der Schuld, sondern als eine der Conditio humana – und auch des Politischen –, beides lässt sich nicht voneinander trennen. Dies ist nur eine von vielen kunstvollen Spiegelungen, die den Film auszeichnen: Fabienne und Laurence, Laurence und Rama, Rama und Alice (Diop), Mutter und Tochter, Mutter und Mutter, Tod und Leben, das Fleisch und das Wort, Prozess und Film, das «bébé métisse» Elise und die französische Gesellschaft – sogar Medea, das Studienobjekt der Intellektuellen Rama, hat ihren Spiegel in einer anderen ikonischen Figur der europäischen Kulturgeschichte: in der billigen Reproduktion der Mona Lisa in der ärmlichen Wohnung ihrer Mutter. Nie allerdings stehen diese Spiegel ganz frontal zueinander, stets etwas abgewinkelt, sodass sie immer noch etwas anderes als ihr Gegenüber einfangen. Und so wird daraus kein geschlossener Spiegelsaal, sondern ein unabgeschlossener Raum, der sich mit jedem Blick weitet. So ist es nur folgerichtig, dass die Mutter in diesem Film nicht nur auf ein Kind verweist, sondern auch auf eine andere Mutter, deren Kind sie selbst war. Mutterschaft, auch das zeigt der Film, ist eine Beziehung zu dritt.

Die Möglichkeit eines Wir

«Saint Omer» ist ein formal eleganter Film von grosser analytischer Klarheit und tiefer Empathie. Wie schon in ihrem Dokfilm «Nous» (2022) geht es Diop auch hier um die Möglichkeit eines Wir, dessen Behauptung nie eine Definition und immer ein politischer Akt ist. Für diesen Akt nimmt die Regisseurin mit grosser Souveränität nichts weniger als Universalität in Anspruch, die sie zugleich von geläufig gewordenen Verflachungen freispielt: Das Universelle findet sich weder im groben Allgemeinen noch im kleinen Nenner. Universalität ist nichts anderes als eine stets momentane Verschiebung der Wahrnehmung, ein Bruch in der Logik der Dinge: wenn gesehen wird, wie etwas über sich hinausweist, nicht obschon, sondern weil es partikular ist. Und das Partikulare ist hier ein Mehrfaches: das Individuum Laurence, das «Ver-anderte» der Schwarzen Frau, das Körperhafte der Geburtlichkeit.

Sie habe, so Diop, die 2016 den ganzen Prozess gegen Fabienne Kabou im Gerichtssaal von Saint-Omer verfolgt hat, den Film «wegen dieser Frau» gemacht.

«Saint Omer». Regie: Alice Diop. Frankreich 2022. Jetzt im Kino.

Caroline Arni ist Professorin am Departement Geschichte der Universität Basel. Sie forscht unter anderem zur Geschichte feministischer Konzeptionen von Mutterschaft und der politischen Ökonomie des mütterlichen Körpers. Zuletzt ist von ihr das Buch «Lauter Frauen. Zwölf historische Porträts» erschienen (Echtzeit Verlag, 2021).