Gefährdete Minderheiten: Das Zaudern der Kantone

Nr. 44 –

Um die Sicherheit von besonders gefährdeten Minderheiten war es bislang in der Schweiz schlecht bestellt. Inzwischen bewegen sich der Bund und gewisse Kantone. Der Kanton Basel-Stadt übernimmt dabei eine Vorreiterrolle.

Schuldenfalle Sicherheit: Videoüberwachungszentrale der Synagoge Basel.

Strenge Einlasskontrollen, Überwachungskameras, bauliche Schutzmassnahmen. Ein Leben wie in einem Krisengebiet. Das ist für jüdische Gemeinden in Europa schon lange Alltag. Die rund eineinhalb Millionen JüdInnen des Kontinents müssen ihre Einrichtungen vor möglichen Terrorattacken schützen – und dafür tief in die eigene Tasche greifen. Ein rechtsstaatlich höchst fragwürdiger Zustand.

In den vergangenen Jahren hat sich diese Bedrohung noch einmal zugespitzt. Die Dämme brechen, im digitalen Raum wird inzwischen offen rassistisch und antisemitisch gehetzt, auch unter Klarnamen. Das bereitet der Gewalt den Boden. Rechtsextreme und islamistische TerroristInnen ermorden JüdInnen, MuslimInnen und Flüchtlinge. In Frankreich, Belgien, Dänemark, Deutschland. Die Terrorattacke eines Rechtsextremen auf die Synagoge in Halle ist das jüngste Fanal.

Offizielle Anerkennung

Die Sicherheitskosten belasten die jüdischen Gemeinden erheblich: In der Schweiz betragen diese für die rund 18 000 JüdInnen rund sieben Millionen Franken jährlich (siehe WOZ Nr. 42/2019 ). Manche jüdischen Gemeinden haben vor allem deswegen rote Zahlen geschrieben. Dabei sollte der Staat den Schutz seiner BürgerInnen – und insbesondere auch seiner Minderheiten – gewährleisten.

Doch die Schweiz hat sich um diesen Schutz bisher weitgehend gedrückt, Bund und Kantone schoben sich jeweils die Verantwortung zu. Ab 1. November wird das anders. Der Bundesrat hat eine Verordnung zum Schutz besonders gefährdeter Minderheiten erlassen – und stellt dafür jährlich eine halbe Million Franken bereit. Das ist beschämend wenig. Und dennoch ein erster Erfolg. Denn die Verordnung ist eine offizielle Anerkennung dieser Bedrohungslage. Und eine Aufforderung an die für die öffentliche Sicherheit zuständigen Kantone, ihre Verantwortung wahrzunehmen.

Herbert Winter, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), bezeichnet dies als «wichtigen ersten Schritt». Die jüdischen Dachverbände SIG und die Plattform der Liberalen Juden der Schweiz (PLJS) haben in einer ersten Stellungnahme allerdings darauf hingewiesen, dass weitere Schritte «dringend nötig» seien. Insbesondere auch ein gesetzlich verankerter Minderheitenschutz. Herbert Winter sagte in einer Rede im Mai, die Schweiz sehe sich selbst als ein Land der Vielfalt. Und doch stelle er sich die Frage: «Ist diese Vielfalt in der Schweiz überhaupt noch erwünscht? Oder sind die zahlreichen Minderheiten, die in diesem Land leben, von der Mehrheitsgesellschaft nur gerade knapp geduldet und stossen bei vielen sogar auf Ablehnung? Möchte ein Grossteil der Schweizer Bevölkerung überhaupt ein vielfältiges und buntes Land oder doch eher ein Land wie zu Gotthelfs Zeiten, mit Bewohnern, die christlich, weiss und heterosexuell sind?»

Kantone nicht begeistert

Bewegung in die Angelegenheit des Schutzanspruchs für besonders gefährdete Minderheiten brachten eine Arbeitsgruppe des SIG, des PLJS und der Föderation Islamischer Dachorganisationen (FIDS) sowie sechs juristische Gutachten, die diesen Anspruch auf Bundesebene und in den Kantonen Zürich, Waadt, Bern, Genf und Basel-Stadt abklärten – und ihn bejahten. 2017 überwies das Parlament eine Motion des Zürcher Ständerats Daniel Jositsch. Damit fasste der Bundesrat den Auftrag, weitergehende Schutzmassnahmen abzuklären und gesetzlich zu verankern. Die nun geltende Verordnung und ein neu angedachtes nationales Sicherheitsdispositiv, in das der Nachrichtendienst, die Polizei und die Minderheiten selbst eingebunden sind, resultieren aus dieser politischen Anstrengung.

Interessant in diesem Zusammenhang ist der Vernehmlassungsbericht zur Verordnung. Die Bereitschaft, Geld in die Hand zu nehmen, hält sich in Grenzen. Dieses zeitgeschichtliche Dokument spiegelt das zwiespältige Verhältnis der MehrheitsvertreterInnen zu den Minderheiten im Land. Jedenfalls räumt es nicht die Zweifel aus, die Herbert Winter in seiner Rede vom Mai formulierte. Die CVP beispielsweise nahm gar nicht erst an der Vernehmlassung teil. Die SVP lehnt spezifische Ausgaben für den staatlichen Schutz von besonders gefährdeten Minderheiten grundsätzlich ab. Auch die Stellungnahmen der Kantone sind, vorsichtig ausgedrückt, zurückhaltend – Neuenburg und Appenzell Innerrhoden etwa lehnen Finanzhilfen schlichtweg ab.

Basel kann es

Ganz anders der Kanton Basel-Stadt. Dort hat der Grosse Rat im vergangenen Jahr in bemerkenswerter Einhelligkeit mit neunzig zu null Stimmen bei einer Enthaltung eine Vorlage angenommen, wie sie auch in allen anderen Kantonen mit gefährdeten Minderheiten selbstverständlich sein müsste. Seit Anfang 2019 schützen dort speziell ausgebildete bewaffnete SicherheitsassistentInnen die jüdischen Einrichtungen. Diese sind Angehörige des Polizeikorps. Nach erfolgter Ausbildung werden es schliesslich acht SicherheitsassistentInnen sein. Eine Taskforce passt bei Bedarf das Sicherheitsdispositiv in Absprache mit den jüdischen Einrichtungen an. Jährliche Kosten dieser Massnahmen: 750 000 Franken. Ausserdem prüft der Kanton bauliche Sicherheitsmassnahmen, die Kosten schätzt er auf 1,5 Millionen Franken. Ob er diese Massnahmen umsetzt, ist noch offen.

An die jüdischen Gemeinden in Basel fliessen somit keine direkten Finanzhilfen, der Staat erfüllt dort bloss seinen Auftrag: Er schützt gefährdete BürgerInnen. Zudem entlasten die Beschlüsse des Grossen Rats die jüdische Gemeinschaft mit ihren 2000 Mitgliedern. Bisher schreiben die jüdischen Gemeinden in Basel nämlich rote Zahlen, im Wesentlichen wegen der Sicherheitskosten. Dies geht zulasten ihrer Kernaufgaben, etwa der Jugendarbeit.

Die eben bekannt gegebenen Zusagen des finanzkräftigen Kantons Zürich und der Stadt Zürich mit der neben Genf grössten jüdischen Gemeinde in der Schweiz wirken dagegen eher kleinlich. Die vom Bund im Rahmen der Verordnung gesprochenen Finanzhilfen sollen dort verdoppelt werden. Dabei dürfte es bestenfalls um jeweils mehrere Zehntausend Franken gehen.

600 antisemitische Vorfälle

Manuel Battegay, Präsident der Israelitischen Gemeinde Basel (IGB), bezeichnet die Beschlüsse des Grossen Rats als «wegweisenden Schritt, nicht nur für Basel und die Schweiz, sondern für Europa». Wie Herbert Winter sagt auch er, dass es nicht allein bei konkreten Sicherheitsmassnahmen bleiben dürfe: «Wir müssen als Gesellschaft und als Staat präventiv aktiv werden und vor allem den Hass im Netz gegen Minderheiten, aber auch allgemein angehen.»

In der Schweiz sind bisher keine Todesopfer zu beklagen. Doch auch hierzulande ist offener Antisemitismus längst kein Tabu mehr. Der «Antisemitismusbericht für die Deutschschweiz» für 2018 listet 600 antisemitische Vorfälle auf. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Dabei geht es um Beschimpfungen im Netz und auf offener Strasse, um Sachbeschädigungen und Schmierereien bis hin zu Tätlichkeiten. Wie jener im Zürcher Kreis 3, wo im Sommer 2018 ein Mann nach einer verbalen Auseinandersetzung eine Gruppe jüdischer Menschen, darunter Kinder, verfolgte und mit einem Messer bedrohte.