Antisemitismus: Nicht bei uns?
Nach dem Attentat auf einen Juden in Zürich: Zur Bekämpfung von Antisemitismus braucht es mehr als einen Aktionsplan des Bundes.
«Nicht bei uns!» Diese Botschaft verkündete eine Plakatkampagne gegen Rassismus und Antisemitismus über die Weihnachtstage quer durch die Schweiz. Lanciert hatten sie die Fachstelle des Bundes für Rassismusbekämpfung, die Stiftung Erziehung zur Toleranz sowie die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA). Die Kampagne hinterliess einen zwiespältigen Eindruck, konnte doch das «Nicht bei uns» so gelesen werden, dass es keinen Antisemitismus in der Schweiz geben soll, oder so, dass es ihn hier bei uns gar nicht geben kann.
Dass es ihn nun aber einmal gibt, mitten in Zürich, an einem belebten Samstagabend, diese traurige Gewissheit brachte das schockierende Attentat, bei dem ein islamistisch radikalisierter Teenager einen Juden mit Messerstichen lebensgefährlich verletzte.
Die politische Antwort darauf kannte als Erster der Zürcher Sicherheitsdirektor, Selbstdarsteller Mario Fehr: Der Täter, ein fünfzehnjähriger schweizerisch-tunesischer Doppelbürger, gehöre ausgebürgert. Als liesse sich das Problem aus der Welt schaffen, indem man eine einzelne Person ausschafft. Den Antisemitismus von sich zu weisen, ihn externalisieren zu wollen, ist die bequemste Art, damit umzugehen. Nur verschwindet er damit nicht, im Gegenteil.
Wie stark der Antisemitismus in der Schweiz zirkuliert, «das Gerücht über die Juden», wie es Theodor W. Adorno definiert hat, zeigt der Antisemitismusbericht, den der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die GRA diese Woche gemeinsam veröffentlicht haben. Seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober letzten Jahres und der darauf erfolgten Kriegserklärung Israels an die Terrororganisation kam es auch in der Schweiz zu einer beispiellosen «Häufung von Tätlichkeiten, Schmierereien, Beschimpfungen und antisemitischen Vorfällen bei Demonstrationen».
Nicht bloss die Zahl der Vorfälle sei erschreckend, sondern auch deren Intensität und Heftigkeit, schreiben die beiden Organisationen. «Hier ist eine Dynamik im Gange, die einerseits latent vorhandenen Antisemitismus an die Oberfläche spült und andererseits verstärkend wirkt.» Eine Dynamik, die alle politischen Milieus betrifft: Der Antisemitismus spukt als Gerücht in vielen Köpfen.
Nicht vergessen werden darf auch, dass der Schweizer Staat in seiner historischen Verfasstheit zutiefst antisemitisch war: Einwohner:innen jüdischen Glaubens wurden 1848 von der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen, die Flüchtlingspolitik des Landes im Zweiten Weltkrieg, aufgrund derer Zehntausende Jüd:innen an der Grenze den Nazis ausgeliefert wurden, war mit der Panikmache gegen «Ostjuden» antisemitisch fundiert. Bis heute tun sich der Bund und die Kantone schwer, den Schutz jüdischer Einrichtungen zu finanzieren.
Da verwundert es wenig, dass der Bundesrat einem Aktionsplan gegen Rassismus und Antisemitismus, wie ihn die grüne Nationalrätin Sibyl Arslan gefordert hatte, eine Absage erteilte. Einen solchen, schrieb er 2022, erachte er als «zurzeit für nicht nötig». In der laufenden Session hat der Nationalrat ihn doch noch zu einem solchen Plan verpflichtet, der Ständerat muss erst folgen. Bleibt zu hoffen, dass die Welle antisemitischer Vorfälle zu einem Umdenken führt: Der Bund muss alles dafür tun, Antisemitismus zu bekämpfen. Mit der strafrechtlichen Verfolgung von Nazisymbolen, mit Fördergeldern zur Bekämpfung von Hass auf digitalen Kanälen oder zur Prävention gegen die Radikalisierung junger Erwachsener.
Doch so, wie sich Antisemitismus nicht ausschaffen lässt, lässt sich seine Bekämpfung nicht vollumfänglich delegieren: nicht an den Staat und schon gar nicht an dessen Geheimdienst, der den Attentäter von Zürich trotz hochgerüstetem Antiterrorgesetz nicht auf dem Radar hatte. Die Arbeit gegen Antisemitismus und Rassismus bleibt auch die der Zivilgesellschaft: in den Schulen, den Vereinen, auf der Strasse. Das «Nicht bei uns», wenn es denn wahr werden soll, braucht tägliche, persönliche Courage.