Kommentar zur Überbrückungsrente: Arbeitserziehungsanstalt Schweiz
Parteien und ParlamentarierInnen sichern die Herrschaft der Reichen ab. Pflästerlipolitik wie die Überbrückungsrente ändert daran nichts.
Kürzlich traf ich einen Mann auf einen Kaffee. Gut ausgebildet, fit, hoch motiviert. Aber ihm haftet ein Makel an. Er ist sechzig Jahre alt. Seine Arbeitsbemühungen liefen ins Leere, er landete bei der Sozialhilfe und damit im grauen Arbeitsmarkt der Sozialindustrie. In der nur notdürftig kaschierten Zwangsarbeit zählen Ausbildung und Berufserfahrung nichts. Selbstbewusstsein, Lebensleistung und Ersparnisse – enteignet. Behörden disziplinieren diese Menschen im Auftrag der Politik und halten sie klein. Der Mann erzählte mir, das Sozialamt verlange von ihm nicht nur die Bankauszüge, was ja okay sei, nein, es wolle auch detaillierte Belege dafür, wie er sein Geld ausgebe. Der Mann ist nur ein Beispiel von vielen.
Mittlerweile anerkennt zumindest der Bundesrat, dass die Schweizer Wirtschaft entgegen ihren Beteuerungen nichts mehr von arbeitslosen Menschen ab Mitte fünfzig wissen möchte. Die Zahl der Sozialhilfefälle in dieser Altersgruppe nimmt rapide zu, jedeR zweite Arbeitslose über 58 findet keine Stelle mehr. Nun hat der Bundesrat eine Überbrückungsrente konzipiert, um älteren Menschen nach einem langen Arbeitsleben die Angst vor dem sozialen Absturz zu nehmen. Dabei geht es nicht nur um sie. Die Überbrückungsrente ist der Preis für die erhoffte Ablehnung der Begrenzungsinitiative der SVP, damit der Weg für den Abschluss des EU-Rahmenabkommens frei wird.
Am Grundproblem – der voraussetzungslosen gesellschaftlichen Teilhabe – änderte diese Detailverbesserung allerdings nichts. Die jüngsten Statistiken zeigen, dass inzwischen auch die Zahl der Menschen ab 45 Jahren, die letztlich in der Sozialhilfe landen, rapide steigt. Die bürgerliche Allianz von SVP, FDP und GLP propagiert ein höheres Rentenalter, redet angesichts der demografischen Entwicklung von Arbeitskräftemangel und davon, dass die Unternehmen auf ältere ArbeiterInnen angewiesen seien. Die Realität konterkariert dieses Gerede.
Wenn dem so wäre: Weshalb entlassen Unternehmen – besonders Konzerne – erfahrene Berufsleute? Und weshalb finden diese, einmal arbeitslos, kaum noch Jobs? Es ist genau andersherum: Es waren SVP und FDP, die Massenentlassungen verteidigten, überzogene Missbrauchsdebatten lancierten, massive Steuergeschenke für Reiche und Konzerne ermöglichten, die Sozialwerke schwächten und die VerliererInnen dieser Politik in eine offene, hart sanktionierende Arbeitserziehungsanstalt stecken. Im Interesse der Wirtschaft, im Interesse der Reichen. Gut bezahlte LobbyistInnen im Parlament verteidigen deren Profitinteressen.
Noch gibt es ein soziales, wenn auch zunehmend löchriges Netz. Wer von ihm aufgefangen wird, aber nicht rasch wieder herausfindet, bezahlt einen hohen Preis: den Preis der sozialen Ächtung, den Preis, als BürgerIn zweiter Klasse und als arbeitsscheues Gesindel behandelt zu werden. Dahinter steckt Kalkül. Niemand – auch nicht jene, denen es materiell noch gut geht – soll sich zu sicher fühlen. Diese latente Angst vor dem Jobverlust diszipliniert, Massenentlassungen und Wegzugsdrohungen von Unternehmen lähmen und sichern somit diese Herrschaft. Das ist eine banale Feststellung. Aber noch wird dieses korrumpierte System als alternativlos hingenommen.
Die Schweiz zeigt Symptome einer pervertierten Demokratie. Die politischen Teilhabemöglichkeiten sind in der direkten Demokratie zwar ausserordentlich, doch ist es ein ungleiches Spiel. Milliardäre halten sich eine Partei und fluten die Briefkästen mit Propagandaschriften. Das muss ein Ende haben. Der Weg zur politischen Genesung führt in einem ersten Schritt über strenge Transparenz- und Korruptionsbestimmungen. Parteien legen offen, wer sie finanziert, ParlamentarierInnen lassen sich nicht bezahlen. Vielleicht lässt sich dann der Umbau der Schweiz in eine Arbeitserziehungsanstalt stoppen, damit künftig alle jederzeit entspannt ihren Kaffee geniessen können.