Bundesratswahl: Jammern auf hohem Niveau

Nr. 47 –

Ignazio Cassis übt sich in Selbstmitleid. Der «SonntagsBlick» konnte ihn exklusiv mit dem Bundesratsjet nach Paris begleiten. Im Interview beklagte sich der Tessiner, dass er als Vertreter einer Minderheit hart kritisiert werde. Er müsse sich schliesslich immer in einer Fremdsprache ausdrücken. Als Beispiel nannte Cassis die Kritik am Rahmenabkommen: Niemals habe er den Lohnschutz schwächen wollen, er sei bloss nicht richtig verstanden worden.

Dass Cassis sich selbst zum Opfer stilisiert, ist absurd. Der Bundesrat ist eine der mächtigsten Personen des Landes, darf mit dem Jet und der Boulevardpresse nach Paris fliegen. Wenn Cassis sehen will, wie Menschen in der Schweiz täglich diskriminiert werden, soll er besser einmal nach Zürich fahren und das dortige Bundesasylzentrum besichtigen (vgl. «Prinzip Einschüchterung» ). Cassis’ Aussage ist aber noch in einer anderen Hinsicht bemerkenswert. Der Aussenminister hat bekanntlich ohne innenpolitische Absprache die rote Linie bei den Verhandlungen mit der EU überschritten. Er hat einen Rahmenvertrag vorgelegt, mit dem der Lohnschutz stark geschwächt wird. Trotzdem behauptet Cassis, alles sei bloss ein sprachliches Missverständnis gewesen.

Wenn am 11. Dezember der Bundesrat neu gewählt wird, geht es nicht um die Frage, ob das Tessin weiterhin vertreten ist. Es geht darum, ob ein Bundesrat wiedergewählt werden soll, der die Folgen seines politischen Handelns offenbar selbst nicht erkennt und Kritik daran nicht reflektiert. Die Abwahl eines Bundesrats schwäche die Institutionen, heisst es immer wieder staatstragend. Das Gegenteil ist richtig: Die Abwahl eines Mitglieds, das seinem Amt nicht gewachsen ist, stärkt den Bundesrat.

Es ist jetzt an den Grünen, eine erfolgversprechende Kandidatur zu präsentieren. Ein Coup ist denkbar: Am Wochenende hat die SP im Ständerat ihre Sitze in St. Gallen, Bern und Solothurn verteidigt und im Tessin mit Marina Carobbio einen gewonnen. Links-Grün könnte auch in der kleinen Kammer nach den verbleibenden Wahlgängen künftig so stark wie nie sein.