Europäische Union: Die Kommission der allerletzten Chance

Nr. 48 –

Am Sonntag tritt die neue EU-Kommission an: Die neuen Gesichter, ihre hehren Pläne und die grössten Schwierigkeiten, mit denen sie sich werden herumschlagen müssen.

Mit einem Monat Verspätung tritt die neue EU-Kommission am 1. Dezember ihr Amt an. Zwölf Frauen und fünfzehn Männer umfasst nun das Team von Präsidentin Ursula von der Leyen (CDU). Es ist eine Kommission mit Startschwierigkeiten: Bereits die Nominierung von der Leyens durch den Europäischen Rat hatte im Sommer für eine massive Verstimmung zwischen den EU-Institutionen gesorgt. Und auch die Zusammenstellung der KommissarInnen nach der Sommerpause verlief holprig – gleich drei KandidatInnen fielen bei den obligatorischen Anhörungen im EU-Parlament durch und mussten ersetzt werden. Nun kommt dieser Machtkampf zu einem vorläufigen Schlusspunkt, am Mittwoch hat das Parlament die neue Kommission bestätigt.

Die neuen Köpfe

In ihren Antrittsbriefen, die von der Leyen allen Mitgliedern ihres Teams schrieb, kündigt sie eine «offene, inklusive und kooperative» Arbeitsweise an. Ganze acht VizepräsidentInnen sollen das Vorgehen der Kommission koordinieren, darunter drei «exekutive», die besonders im Blickpunkt stehen. Die Dänin Margrethe Vestager, bislang für Wettbewerb zuständig, wird nun Kommissarin für Digitalisierung. Valdis Dombrovskis, ehemaliger lettischer Ministerpräsident, wechselt vom Ressort «Euro und sozialer Dialog» zu «Wirtschaft für die Menschen».

Der Niederländer Frans Timmermans, vor den letzten Europawahlen Spitzenkandidat fürs Kommissionspräsidium, wird von der Leyens erster Vertreter und kümmert sich künftig um das wohl spektakulärste neue Ressort: «European Green Deal». Klimapolitisch gibt sich die neue Kommission besonders ambitioniert. Von der Leyen verschreibt sich ausdrücklich den Uno-Zielen zur nachhaltigen Entwicklung. Und auch im neuen EU-Haushalt sind Klimaschutzmassnahmen mit rund einem Fünftel des Budgets eine der Prioritäten.

Im Fokus steht auch Josep Borrell i Fontelles, einstiger spanischer Aussenminister, der dem Ressort «Ein stärkeres Europa in der Welt» vorsteht. In den Schreiben an ihr Team spricht von der Leyen von einer «geopolitischen Kommission». In ihrer Grundsatzrede zum 30. Jahrestag des Mauerfalls unterstrich sie diesen Anspruch mit der Forderung, Europa müsse «die Sprache der Macht lernen». Die Kroatin Dubravka Suica wiederum wechselt aus dem Parlament an die Spitze des Ressorts «Demokratie und Demografie». Die Verankerung der EU in der Bevölkerung ist ein weiteres Anliegen der neuen Kommission, die deshalb in der ersten Hälfte ihres fünfjährigen Mandats jeden Mitgliedstaat besuchen will.

Ambitionen wie diese weisen auf das bemerkenswerte Spannungsfeld hin, in dem von der Leyens KommissarInnen bis 2024 agieren werden. Die höchst umstrittenen Umstände ihrer Ernennung liessen die bisherige deutsche Verteidigungsministerin wie das personifizierte Demokratiedefizit erscheinen, unter dem die EU latent leidet. Ihre denkbar knappe Wahl und der lange Prozess der Anhörungen ihrer KandidatInnen, der sich von Ende September bis Mitte November hinzog, zeigen, dass das EU-Parlament dieser Kommission besonders auf die Finger schaut und schauen muss – als Vertretung der europäischen Bevölkerung und mit der Einsicht, dass die Legislative in der EU deutlich mehr Gewicht braucht.

Angesichts dieser Konstellation hat von der Leyen kaum eine andere Wahl, als sich kooperativ und offen zu zeigen: gegenüber den anderen Institutionen, allen voran dem Parlament, aber auch bezüglich einer sozialeren, nachhaltigeren Agenda samt einem Gesetz, das Klimaneutralität bis 2050 zum Ziel hat. «Ich bin stolz auf unsere einzigartige europäische soziale Marktwirtschaft», schreibt von der Leyen in ihrer Erklärung «My agenda for Europe», und sie fordert tatsächlich «eine Wirtschaft für die Menschen». Ob ihre Kommission den hehren Ambitionen Taten folgen lassen kann, wird sich zeigen.

Eine neue Chance

Als von der Leyens Vorgänger Jean-Claude Juncker 2014 sein Amt antrat, sprach er angesichts der damaligen Krisen von einer «Kommission der letzten Chance». Dann wäre die aktuelle Nachfolgerin also die Kommission der allerletzten Chance. Die Herausforderungen, vor denen sie steht, sind gigantisch: der sich dahinschleppende Brexit, die Uneinigkeit zwischen Paris und Berlin bezüglich einer weiteren Ausbreitung der Union, der interne Disput über die Migrationspolitik, die den behaupteten eigenen ethischen Standards meilenweit hinterherhinkt. Hinzu kommen Zerfallserscheinungen in Mitgliedstaaten wie Spanien oder Belgien sowie der grassierende und immer rabiater auftretende Rechtspopulismus.

Dabei könnte sich Europa auch zu einem Korrektiv im Namen von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten entwickeln – nämlich dann, wenn die Dynamik der anstehenden institutionellen Reformen in diese Richtung gelenkt werden kann. In diesem Sinn bietet die neue Kommission selbst die Chance auf einen Vorzeichenwechsel.