Dokuserie: Kindsmord als Milieustudie

Nr. 49 –

Man weiss es ja: Das Grauen lauert in der Provinz, dem bevorzugten Schauplatz spektakulärer Gewaltverbrechen. Im tristen französischen Dörfchen Lépanges-sur-Vologne im Nordosten des Landes sorgte im Herbst 1984 ein Kindsmord für Schlagzeilen. Der vierjährige Grégory Villemin war tot in einem Fluss gefunden worden, Arme und Beine gefesselt. Die Ermittlungen führten ins familiäre Umfeld: Jean-Marie Villemin, Grégorys Vater, hatte über Jahre hinweg anonyme Drohungen erhalten, die wohl durch den Neid auf den bescheidenen Aufstieg des jungen Mannes (Beförderung zum Vorarbeiter, ein Eigenheim) hervorgerufen worden waren; rasch lag der Verdacht nahe, dass der Stalker und der Mörder ein und dieselbe Person sein und der eigenen Verwandtschaft entstammen dürften.

Trotzdem sollte das Verbrechen die Öffentlichkeit noch jahrzehntelang beschäftigen: Bis heute ist es nicht aufgeklärt, auch wegen böser Justizpannen. Im Lauf der Zeit brannte sich die Geschichte in Frankreich ins kollektive Bewusstsein ein, was sich auch anlässlich des Starts der Dokuserie «Wer hat den kleinen Gregory getötet?» zeigte, die seit kurzem auf dem Streamingportal Netflix verfügbar ist und den Fall für ein internationales Publikum aufarbeitet. In der Zeitung «Libération» hiess es etwa pathetisch: «Mit den Jahren sind wir alle zu Nahestehenden des kleinen Grégory geworden. Er ist in jedem Einzelnen von uns herangewachsen.»

Regisseur Gilles Marchand rekonstruiert den Fall packend, aber nicht reisserisch mit Archivmaterial und eigens für die Netflix-Produktion geführten Interviews mit involvierten Polizisten, Juristen und Journalistinnen. Darüber hinaus ist «Grégory» eine faszinierende Studie über skrupellose Reporterinnen, selbstherrliche Beamte – und ein soziales Milieu, das zwischen Proletariat und Kleinbürgertum oszilliert und in dem die Familie noch eine Grösse darstellt, die die Lebenswelt der Menschen auch jenseits gelegentlicher Familienfeste beherrscht.

Wer hat den kleinen Gregory getötet?. Gilles Marchand und Anna Kwak Sialelli. Frankreich 2019. Läuft auf Netflix