Durch den Monat mit Aura Xilonen (Teil 1): Würden Sie lieber hierbleiben?
Warum die mexikanische Autorin Aura Xilonen bei einem Sommernachtsspaziergang in der Schweiz Traurigkeit verspürt, und weshalb sie einen Roman mit einem Migranten als Titelhelden geschrieben hat.

WOZ: Aura Xilonen, Sie sind seit fünf Monaten am Literaturhaus Zürich als Writer in Residence. Wie nehmen Sie das Leben hier in Zürich im Unterschied zu dem in Puebla in Mexiko wahr, wo Sie sonst leben?
Aura Xilonen: Man spürt hier eine extreme Ruhe und einen Frieden. Zwar haben mir meine Schweizer Bekannten gesagt, dass es in Zürich laut sei und es viele Leute gebe im Unterschied zu anderen Orten in der Schweiz (lacht). Doch für mich, die aus einer chaotischen Stadt kommt, gibt es kaum Menschen hier und ist es extrem ruhig. Das ist wunderbar, denn wir brauchen Momente der Ruhe in diesem Leben. Andererseits spüre ich hier eine grosse Traurigkeit …
Woran liegt das?
Vor etwa drei Monaten bin ich durch Zürich gelaufen und musste fast weinen: Es war Sommer, und ich konnte um zehn Uhr abends im kurzen Kleid durch die Stadt spazieren, ohne Angst zu haben, dass mir etwas passiert. Ich dachte an meine Freundinnen und Freunde in Puebla, die so etwas Einfaches nicht erleben können. Denn in Puebla musst du immer Angst haben, dass dir etwas passiert. Du bist immer auf der Hut. Dieses Wort – «alerta» – ist dein ständiger Begleiter. Und das prägt dich extrem.
An diesem Abend in Zürich war ich einerseits sehr glücklich, dass ich diese Unbeschwertheit erleben konnte. Andererseits war ich sehr traurig, weil all meine Freundinnen und Freunde, die Mexiko noch nie verlassen haben, dieses Lebensgefühl nicht kennen. Du merkst ja erst, wenn du ausserhalb des Landes bist, wie sehr dich diese Angst prägt. Ich verstehe jetzt viel besser, warum die Menschen Mexiko verlassen wollen – und dass sie nicht mehr zurückwollen, wenn sie einmal weg sind.
Sie gehen Ende Dezember zurück. Würden Sie denn lieber hierbleiben?
Ich würde wegen der Dinge, die ich soeben aufgezählt habe, bleiben wollen. Aber in Mexiko ist meine Familie, dort ist mein Leben. Und der Punkt ist ja: Auch wenn du gehst, die Sorgen um deine Familie, die dort lebt, die bleibt. Du kannst nicht alle Familienmitglieder mit ins Ausland nehmen. Aber ich glaube, das ist ein Konflikt, den alle haben, die weggehen: Es braucht Eier, um fortzugehen, aber es braucht noch viel mehr Eier, um wieder zurückzukehren.
In Ihrem Roman «Gringo Champ», mit dem Sie international bekannt wurden, geht es auch um einen, der weggeht. Liborio ist ein junger Mexikaner, der es über die Grenze in die USA geschafft hat und sich dort buchstäblich durch den Alltag schlägt: Zuerst arbeitet er in einer Buchhandlung, später beginnt er zu boxen. Wie sind Sie auf diesen Protagonisten gekommen?
Ich wollte, dass mein Protagonist eine Figur ist, die sich im Lauf des Buchs entwickelt. Liborio durchläuft drei Entwicklungsphasen: eine physische, eine intellektuelle und eine emotionale. Ich wollte, dass er gescheit und stark ist. Denn auch ein Boxer kann intelligent sein – seltsamerweise trennen wir häufig Intelligenz und physische Stärke, als ob nur das eine ohne das andere möglich wäre.
Liborio ist ein Kind der Strasse, das unter schwierigen Umständen gross geworden ist, ohne Ausbildung, ohne Familie und ohne Liebe, nicht einmal das Nötigste wie genügend zu essen und zu trinken hatte er. Doch seine Geschichte hat ein wunderbares Ende – anders als es die meisten Migrantenkinder in den USA leider erleben.
Warum haben Sie einen Roman über Migration geschrieben?
Ganz Mexiko ist «imprägniert» von dem Thema, es gibt keinen einzigen Tag, an dem wir keine News über Migrantinnen und Migranten hören, sehen oder lesen – ganz egal, in welchem Teil des Landes du lebst. Allerdings migrieren wir Menschen, seit es uns gibt. Das darf man nie vergessen. Und es wird auch immer Migration geben, solange es Menschen gibt. Von daher ist Migration ein universales Thema. In den letzten Jahrzehnten ist es jedoch akuter geworden, gerade auch in Mexiko. Ich glaube, alle Mexikaner haben einen Verwandten oder einen Freund, der versucht hat, die Grenze zu den USA zu überwinden. Alle kennen jemanden oder haben von jemandem gehört, der gegangen ist, der es geschafft hat, der es versucht hat oder der ausgeschafft wurde.
Sie auch?
In meinem Fall war es so: Meine Grossmutter betrieb in Puebla Dampfbäder und hatte Heizer und andere Arbeiter angestellt. Ich selber arbeitete an der Kasse und hörte den Arbeitern zu. Sie erzählten Geschichten aus ihrem Leben und aus dem Leben von Bekannten und Freunden, Geschichten, die von Migration handelten. Und bei diesen Erzählungen wurde mir klar: Personen, die migrieren, haben auch in den düstersten Momenten und schlimmsten Situationen das Bedürfnis, zum Beispiel einen Witz zu machen und so einen Moment des Glücks zu verspüren. Und das ist im Grunde das Thema meines Buchs: das Licht, das im dunkelsten Tunnel scheint und einen rettet – sei das der Humor, die Hoffnung oder die Liebe.
Aura Xilonen (23) ist auf Einladung des Literaturhauses Zürich und der Stiftung PWG seit Juli 2019 in Zürich. Ihr Roman «Gringo Champ» ist diesen Frühling auf Deutsch erschienen.
Xilonen liest am Montag, 9. Dezember 2019, um 20 Uhr im Ono in Bern und am Dienstag, 17. Dezember 2019, um 12.15 Uhr im Literaturhaus Zürich.