Erwachet!: Ab in den Bunker!

Nr. 2 –

Michelle Steinbeck lernt, dass individuelles «weniger» nicht mehr ist

Das Jahr vor dem Fenster liegt noch im Böllernebel, aber die Katastrophenfotos auf den Bildschirmen sind retinascharf: Das Affenhaus brennt. Die Erde trinkt noch den schalen Schampusrest aus, bevor sie den längst überfälligen Menschendetox in Angriff nimmt.

Ob wir in die Schweiz zurückzögen, weil dort jedes Haus seinen eigenen Bunker habe, fragt der Hamburger Verwalter. Ein sanguinischer Schrank von einem Mann, der sich die Kappe vom Kopf reisst und dröhnt: «Ich hab sie verkehrt herum an, hoffentlich hab ich meine Unterhose wenigstens richtig!» Er macht das Diktiergerät aus und sagt: «Scherz. Hört mal, meine Frau hat mich gestern gefragt, ob wir nun anfangen, Vorräte zu lagern. Irgendwie hat sie sich das jetzt in den Kopf gesetzt. ‹Was wollen wir mit den ganzen Dosen ohne Kocher?›, sagt sie. ‹Als Erstes brauchen wir einen Gaskocher.› – ‹Aber wo willst du hin damit?›, frage ich. ‹Wir haben ja keinen Bunker.› – ‹Stimmt›, sagt sie, ‹es bringt ja alles nichts, aber trotzdem.›»

Während die einen langsam in Panik geraten, schreiben die Hoffnungsvolleren gute Vorsätze auf Neujahrszettelchen und vergraben sie hinter dem Haus. «Netter sein zu Mutter, weniger Fleisch, mehr bio & fair.» Die ganz Optimistischen halten es hingegen wie der Reiseanbieter, der zurzeit stolz seine unschlagbar grüne Lösung präsentiert: «Winter-Vorsatz: Weniger weit fliegen!» Genial. Der Markt regelt es eben doch, und für den ist alles Sache der Kalkulation: Wie viel CO2 sparst du, wenn du weniger – weit – fliegst? Viel mehr!

Im wöchentlichen Nachhaltigkeitsseminar sind sich jedoch alle einig, dass individuelles «weniger» nicht mehr ist: «Wie soll denn das gehen?» Postwachstumsgesellschaft? Unvorstellbar. Ein Hirngespinst, so undemokratisch wie wirtschafts- und fortschrittsfeindlich – «Ich will nicht zurück ins Mittelalter, ich will sehen, was Silicon Valley in den nächsten hundert Jahren so rausbringt!» Offenbar ist es einfacher geworden, an eine Zukunft unsterblicher Cyborgs zu glauben, statt zu hinterfragen, inwiefern unser Lebensstil heute ungerecht und zerstörerisch ist.

Angehende SoziologInnen lernen, dass wir im Neoliberalismus leben, in dem Bürgerinnenrechte quasi zu Kundenrechten degradiert worden sind. Als Bonus scheint es nun gratis zum Bachelor ein Argumentationsset zu geben, weshalb wir das noch verteidigen müssen: «Wie können wir freie Individuen sein, wenn wir nicht mehr frei konsumieren dürfen?» Getreu der Reisebürologik beschneiden wir uns ja selbst, würden wir uns im Supersale anfangen zu fragen: Brauche ich das wirklich?

Klar, dem verbrannten Känguru ist es gleich, ob ich Bepanthen auf mein wundes Gewissen schmiere, indem ich mir vornehme, 2020 keine neuen Kleider zu kaufen. Und ja, der Grossteil der Emissionen wird von ein paar Unternehmen ausgestossen; ja, die Politik muss mehr erreichen; ja, wir brauchen Umverteilung, progressive und nicht regressive Steuern; und ja, natürlich haben wir als einzelne Konsumierende nicht die absolute Macht. Aber wir müssen aufhören, uns nur als solche zu sehen. Denn um die Erde zu überzeugen, dass wir nicht die blutsaugenden Läuse sind, als die wir uns derzeit geben, brauchen wir dringend andere Skills als Twinten. Und doch sollten wir die vergrabenen Zettel nicht unterschätzen. Denn vielleicht sitzt du bald mit deinem Mami im Bunker.

Michelle Steinbeck beendet bald ihr Austauschsemester an der Exzellenzuniversität Hamburg und zügelt pünktlich zur Katastrophe zurück in den Bunker.