Erwachet!: Nachsitzen bitte

Nr. 4 –

Michelle Steinbeck über klebrige Hirngeburten

In Seminaren, die von Männern geleitet werden, kommt es überdurchschnittlich oft zu einem sozialen Phänomen, das im Volksmund «geistiger Schwanzvergleich» genannt wird. Es äussert sich in einer Dynamik, bei der zwei Studenten (manchmal auch Dozenten) in gefühlt unendlichen Prozessen ihre Gedankengänge in der stickigen Klassenzimmerluft bis zur Unkenntlichkeit auswalzen.

Die klebrigen, flachen Hirngeburten fliegen dabei nicht, wie fälschlicherweise oft mit dem Begriff des Pingpong suggeriert wird, flink hin und her. (Im Pingpong gibts schliesslich auch die Möglichkeit des Rundlaufs, wo nacheinander alle zum Zuge kommen.) Nein, die akademischen Fladen bleiben gern über dem Kopf des Laberierenden hängen, wo sie die Sicht auf sämtliche Mitstudierenden verdecken, die vielleicht auch etwas beizusteuern hätten. Sie sind gefesselt vom Anschwellen ihres eigenen Gedankengebildes, das im Übrigen gar nichts weiter befruchten soll – Studenten, die sich für wahre Denker halten, bilden sich etwas drauf ein, vor versammelter Klasse ausgiebig intellektuell zu masturbieren.

Müssig zu sagen, dass dieses Phänomen für alle anderen ein ermüdendes und den Geist wenig erfrischendes ist. Hat sich diese Dynamik erst einmal etabliert, ist sie fast unmöglich zu durchbrechen: Sie verströmt eine Trägheit, die sich rasch im Raum ausbreitet wie ein Nervengift, das allen Widerstand abtötet. Einzelne aufrührerische Auflehnungen werden vom lethargischen Mob mit stummer Ablehnung gestraft. Es drängt sich die Frage auf, weshalb diese Praxis an einer Exzellenzuniversität überhaupt noch geläufig ist. Zwar gibt es (überwiegend weibliche) DozentInnen, die solches Verhalten als unanständig einstufen und deshalb in ihren Seminaren nicht dulden. Solche DozentInnen sind beliebt und doch, grob geschätzt, in der Unterzahl.

Der Grossteil der Veranstaltungen wird, sagen wir mal, hegemonisch geführt. Da wird, ohne mit der Wimper zu zucken, drüber hinweggelesen, wenn zeitgenössische Wirtschaftskritiker schreiben, lohnarbeitende Frauen seien «Verbündete» der Deregulation. Oder einfach mal behaupten, Chancengleichheit bringe per se grössere Ungleichheit. Oder die «soziale Schliessung» beschreiben, die Frauen zu verschulden hätten, indem sie vermehrt höhere Bildungswege beschreiten: So könnten sich schlechter gestellte Frauen heutzutage weniger gut hochschlafen – denn der Arzt nehme nun lieber die Anästhesistin als die Krankenschwester.

Zum Glück gibt es die mutige Kommilitonin, die kürzlich die Kapitulation überwand. Auf die Gefahr hin, die Nudelholzer zu beschämen und als hysterische Emanze abgekanzelt zu werden, haute sie mit einem lauten Hieb auf den Tisch und einen Überraschungsmoment ins dösende Seminar. Die verdutzte Stille riss die mürben Teige auf und bot die nötige Kerbe zum Reingrätschen. Der Grossteil der Klasse, Professor inklusive, erfreute sich daraufhin der sprudelndsten, spannendsten Diskussion des Semesters. Nur ein Kommilitone, dem das nicht geheuer war, beschwerte sich sauertöpfisch: «Ihr könnt doch nicht einfach das Seminar kapern. Feminismus hat nichts mit Kapitalismus zu tun.»

Er musste dann nachsitzen und 12 000 000 000-mal schreiben: Frauen und Mädchen leisten weltweit 12 000 000 000 Stunden unbezahlte Arbeit. Täglich.

Michelle Steinbeck ist Autorin und Masterstudentin der Soziologie.