Unruhen im Libanon: Als wären die Bankomaten schuld

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Die Strassenschlachten zwischen Protestierenden und Polizei haben zuletzt ein neues Gewaltniveau erreicht. Seit Dienstag hat der Libanon zumindest wieder eine Regierung – doch solange das wechselseitige Versagen von Wirtschaft und Politik anhält, zeichnet sich keine echte Entspannung ab.

Anfang Dezember wettete Joey Ayoub mit einem Freund, wann die Heugabelphase beginnen würde. Beide tippten auf Mitte Januar – und waren mit ihrer Schätzung ziemlich präzise. Denn mit «Heugabelphase» meint Politikwissenschaftler Ayoub die nächste Eskalationsstufe der Proteste im Libanon. In seinem Sinnbild jagt ein wütender, mit Heugabeln bewaffneter Mob einen Sündenbock. Und im Libanon, wo Protestierende seit drei Monaten ein neues politisches System fordern, erfüllen derzeit Banken und PolizeibeamtInnen die Rolle dieses Sündenbocks.

Letzte Woche, kurz vor der Abreise des Aussenministers und meistgehassten Politikers Gebran Bassil nach Davos, sind die zuvor mehrheitlich gewaltfreien Proteste in wütende Randale und Strassenschlachten mit der Polizei umgeschlagen. Bei einem Protest vor der libanesischen Zentralbank in Beirut demolierten DemonstrantInnen Scheiben und Geldautomaten. Die Polizei setzte Unmengen an Tränengas und Gummischrot ein, die Protestierenden warfen Abschrankungsgitter und Strassenschilder. Übers Wochenende wurden in Beirut insgesamt fast 500 Menschen verletzt, darunter auch JournalistInnen. Manche Protestierende verloren gemäss Medienberichten ein Auge durch die Polizeigeschosse.

Angst vor dem grossen Abfluss

Millionen LibanesInnen haben zuvor mehrheitlich friedlich gegen die korrupte Elite, die mächtigen Parteien und das konfessionelle Quotensystem in der Politik demonstriert. Nun steht das Land an einem Wendepunkt. «Die Gewalt hat auf beiden Seiten zugenommen», sagt die Journalistin Luna Safwan, die die Proteste von Anfang an begleitete. Sie betont die unverhältnismässige Härte, mit der die Polizei vorgegangen sei. «Die Menschen scheinen zu glauben, dass Randale der einzige Weg sei, sich Gehör zu verschaffen», so Safwan. Zwar hat der neue Premierminister Hassan Diab am Dienstag die Bildung einer Regierung bekanntgegeben – was aber umgehend mit weiteren Demonstrationen und Strassenblockaden quittiert wurde. «Die Leute wollen kein neues Kabinett», sagt Journalistin Safwan, «sie wollen ein neues System.»

Dass sich die Wut gegen die Banken richtet, ist auch eine Reaktion auf die tiefe Wirtschaftskrise, in der das Land steckt. Als die Proteste im Oktober ausbrachen, blieben die Banken zwei Wochen lang geschlossen. Das hatte es nicht einmal während des fünfzehn Jahre dauernden Bürgerkriegs (1975–1990) gegeben. Die Furcht war gross, dass die Unruhen AnlegerInnen dazu bewegen könnten, grosse Geldmengen abzuheben oder ins Ausland zu transferieren – während die Stabilität des libanesischen Wirtschaftssystems genau darauf fusst, genügend Dollarreserven im Land zu halten, um einen fixen Wechselkurs des Libanesischen Pfunds zum US-Dollar zu wahren.

Auch wenn PolitikerInnen die Schuld gerne der Protestbewegung zuschieben: Die Gründe für die Krise reichen weiter zurück als die Demonstrationen. Bereits seit 2011 stagnierte die Wirtschaft, vor allem wegen des Krieges im Nachbarland Syrien. Weil immer weniger US-Dollar ins Land flossen, borgte die Zentralbank im grossen Stil Geld von den libanesischen Banken und zahlte darauf hohe Zinsen. Die ohnehin schon hohe Verschuldung stieg, während die Banken wiederum vor allem an einem Ort investierten: in den libanesischen Staat. Mittlerweile steckt über die Hälfte ihrer Anlagen da drin.

Falsche Reserven

Ein riskantes Geschäft. Die Gesamteinlagen der Zentralbank und der Banken betragen rund 170 Milliarden US-Dollar, davon rund ein Viertel in libanesischen Lira. «Doch diese Zahl ist ein Computereintrag», sagt der Ökonom Dan Azzi. Er schätzt die tatsächlich vorhandenen Dollar auf ungefähr die Hälfte.*

Die Auswirkungen der Krise sind längst spürbar. Die Banken haben Kapitalkontrollen eingeführt, reguläre KundInnen können derzeit nur etwa tausend US-Dollar pro Monat abheben – während es manche Superreiche und PolitikerInnen geschafft haben sollen, ihr Vermögen ins Ausland zu transferieren. Gleichzeitig führt die faktische Abwertung des Libanesischen Pfunds zu Lieferengpässen bei Importgütern: bei Lebensmitteln oder Zigaretten, bei Medikamenten und Benzin. Geschäfte schliessen, die Arbeitslosigkeit steigt weiter.

Dass ein anderes Land oder der IWF dem Libanon unter die Arme greift, hält Azzi für unrealistisch: «Niemand wird siebzig Milliarden Dollar zahlen, nur damit die libanesischen Anleger ihr Geld nicht verlieren.» Für den Ökonomen gibt es nur eine Möglichkeit: Die «Fake-Reserven» müssten berichtigt werden. Die Frage sei dann nur noch, wie der Verlust unter den AnlegerInnen zu verteilen wäre. Je länger die Verantwortlichen aber damit zuwarteten, desto schlimmer würden die Folgen – und umso stärker steige die Wut gegen die Banken.

Wie die neue Regierung mit der ökonomischen Krise umgeht, bleibt abzuwarten. Einige ihrer MinisterInnen haben zwar einen akademischen Hintergrund, doch stehen die meisten der Hisbollah und ihren Allianzen nahe. So wird sich die Protestbewegung vorerst auch kaum besänftigen lassen: Sie fordert ein Kabinett, das unabhängig ist von den herrschenden Parteien. Joey Ayoub glaubt deshalb, dass nach den Banken vermehrt auch Ministerien oder gar einzelne PolitikerInnen ins Visier der Protestierenden geraten könnten. «Klar, die Banken tragen eine Mitschuld», so der Politikwissenschaftler, «aber es war die Politik, die den Banken ihre Geschäfte erst ermöglichte.»

* Korrigendum vom 29. Januar 2020: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion schrieben wir fälschlicherweise, dass die Dollarreserven der libanesischen Zentralbank offiziell rund 170 Milliarden betragen. Wir bitten um Entschuldigung für dieses Versehen.