Wirtschaftskrise im Libanon: Warum starb George Zreik?
In Beirut ragen kaum bewohnte Luxusimmobilien in den Himmel, während sich in Tripoli ein verzweifelter Taxifahrer vor der Schule seiner Tochter anzündet. Die einzige englischsprachige Zeitung warnt derweil: «Libanon, wach auf, bevor es zu spät ist!» Was ist los im kleinen Staat am Mittelmeer?
Um ihn herum hupt es, der Taxifahrer Schukri Zreik steht im Stau. Die Türen seines orangen Mercedes schliessen nicht richtig. Älteres Modell, Jahrgang 1978. Ein Motorradfahrer eilt zu Hilfe, öffnet seine Hintertür, knallt sie zu, grüsst Zreik im Vorbeifahren – Alltag im Strassenverkehr von Tripoli. Zreik fährt die Strasse hoch, an Ständen der Fruchtverkäufer vorbei. «Die kommen im Monat vielleicht auf 700 000 libanesische Lira», rechnet er vor. Umgerechnet sind das etwa 460 Franken. Und davon müssten sie eine Familie mit vier Kindern ernähren. «Aber die Leute haben keine Alternative.»
Zreik wartet auf Fatima und Zeinab, die er um fünf Uhr abends von Zeinabs Wohnung abholen soll. Die beiden jungen Frauen sind Stammkundinnen von ihm. Er hat sie von seinem Bruder George Zreik übernommen, nachdem dieser sich Anfang Februar 2019 vor der Schule seiner Tochter mit Benzin übergossen und angezündet hatte. Er erlag am Tag darauf im Krankenhaus seinen Verletzungen.
Die Geschichte von George Zreik schockierte damals den Libanon, manche verglichen ihn mit dem tunesischen Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, der sich 2011 aus Protest gegen die Konfiszierung seiner Waren durch die Polizei anzündete und damit die Revolten des Arabischen Frühlings auslöste. Anders als bei Bouazizi folgten im Libanon keine Massendemonstrationen auf George Zreiks Tod. Es blieb der verzweifelte Protest eines Einzelnen, der die Schulgebühren seiner Tochter nicht zahlen konnte und sich nach einem Streit mit der Schulleitung das Leben nahm. Doch sein Tod war eine Warnung dafür, wie prekär die Lage vieler LibanesInnen inzwischen geworden ist.
Massenarbeitslosigkeit und Inflation
«Libanon», titelte die englischsprachige Zeitung «The Daily Star» ein halbes Jahr später am 8. August auf schwarzem Grund. Auf der letzten Seite: «Wach auf, bevor es zu spät ist!» Dazwischen listete die Zeitung Probleme auf, mit denen das Land derzeit kämpft: Die Regierung hatte sich seit Wochen nicht getroffen, die Abfallberge in den Strassen wurden höher, die Spannungen zwischen den Religionsgruppen verschärften sich, die Staatsverschuldung lag bei fast hundert Milliarden US-Dollar, und ein Viertel der LibanesInnen waren arbeitslos.
«Wir haben nur all das zusammengefasst, worüber wir und die anderen Medien im Land jeden Tag schreiben», sagt der Chefredaktor Nadim Ladki. Er lehnt in einem Sessel in seinem Büro, auf der Kommode daneben steht ein Aschenbecher voller Zigarrenasche. Es sei eine spontane Aktion gewesen. Am Tag davor hatte ein Redaktor die Idee, nur wenige Stunden vor Redaktionsschluss. «Wir wollten eine Warnung aussenden», sagt Ladki. «Der Libanon ist schon zu normalen Zeiten kein stabiles Land.» Achtzehn Religionsgruppen, zwei politische Blöcke, die sich seit dem Ende des Bürgerkriegs gegenüberstehen, Korruption, eine dysfunktionale Strom- und Wasserversorgung. «Aber», sagt Ladki, «selbst vor diesem Hintergrund ist die Situation derzeit beunruhigend.»
Das Hauptproblem des Landes ist seine miserable Wirtschaftslage. Denn diese wirkt wie ein Katalysator auf alle anderen Probleme im Land: die Spannungen zwischen den Religionsgruppen, die Rivalitäten zwischen den Parteien, den Rassismus und die Ressentiments gegen AusländerInnen, vor allem gegen syrische Flüchtlinge. Je prekärer die Wirtschaft, desto instabiler das Land als Ganzes.
Im Januar stufte die Ratingagentur Moody’s das Land von B3 auf Caa1 herab – zum ersten Mal in zwei Jahrzehnten. Im August folgte die Agentur Fitch. 2018 lag das reale Wachstum bei gerade noch 0,2 Prozent. Der Libanon ist das am dritthöchsten verschuldete Land weltweit, die Verschuldung steigt jährlich und damit die Sorge, dass die Regierung irgendwann nicht mehr in der Lage ist, die Schulden zurückzuzahlen. In den vergangenen Jahren flossen zudem weniger Dollar in das Land, die nötig sind, um den fixen Wechselkurs zum libanesischen Pfund zu halten.
Luxus und Leerstand
Die Redaktionsräume des «Daily Star» liegen im Zentrum Beiruts, das nach dem Ende des Bürgerkriegs 1990 abgerissen und neu gebaut wurde. Auf den Strassen vor dem Gebäude sieht man nur wenige Menschen. Downtown Beirut, wo vor dem Krieg der alte Souk und damit das Herz der Stadt lag, ist heute eine mondäne Geisterstadt aus sterilen Hochhäusern und treu dem alten Kolonialstil nachempfundenen Bauten. Überall in den zentralen Vierteln der Hauptstadt ragen Luxusimmobilien aus den Wohnvierteln auf, zwischen renovierungsbedürftigen Steinhäusern, einigen übrig gebliebenen Kriegsruinen und schmucklosen Wohnblocks. Viele bleiben leer, es sind Geldanlagen, die Wohnungen können sich ohnehin nur wenige leisten.
«Schau, wie schön der Libanon ist», sagt Schukri Zreik über das Brummen des Motors hinweg. Der orange Mercedes holpert über eine dürftige Strasse, vor uns stehen wie vergessen zwischen Gras und Büschen kleine Blockhäuser. Wir sind unterwegs zu einem Café in der Nähe des Hafens, doch Zreik fährt einen Umweg durch eine inoffizielle Siedlung am Rand von Tripoli. «Die Ausländer denken, der Libanon sei Beirut, Jbeil und Jounieh», sagt er und meint jene Orte, an denen das Land vor Reichtum glänzt. «Aber die sollten mal hierherkommen! So sieht der Libanon wirklich aus», sagt er, während wir über den Weg an den armseligen Hütten vorbeifahren, die nicht grösser als ein Zimmer sind.
Der Luxus, der in Beirut in den Himmel ragt, und die immer prekärer werdende Situation vieler BewohnerInnen des Landes sind beide das Resultat der libanesischen Wirtschaftspolitik. «Nach dem Bürgerkrieg verfolgte die Regierung das Ziel, den Libanon als Banken- und Tourismushub der Region zu etablieren», sagt der Ökonom Mohammad al-Akkaoui von der zivilgesellschaftlichen Lobbyorganisation Kulluna Irada. Das libanesische Pfund wurde mit einem fixen Wechselkurs an den US-Dollar gebunden, und um flüssig an Dollars zu bleiben, vergaben die Banken hohe Zinsen an Anleger aus dem Ausland, meistens reiche LibanesInnen. Gleichzeitig halten die libanesischen Banken die Mehrheit der Staatsanleihen, auf die sie ebenfalls hohe Zinsen erhalten. Der Staat ist also bei den eigenen Banken verschuldet, für die Banken wiederum – viele davon zumindest teilweise im Besitz von führenden PolitikerInnen – ist es dank der hohen Zinsen ein lohnendes Geschäft. Solange der Staat zahlungsfähig bleibt und genügend Dollars ins Land fliessen, ist das System stabil. Doch bei einem Staatsbankrott oder wenn die Dollarreserven schwinden, droht es zu implodieren – umso alarmierender, dass die Banken jüngst damit begonnen haben, die Dollarausgabe zu rationieren.
Diese Wirtschaftspolitik hat einen weiteren Haken: Sie lähmt die Produktivwirtschaft und verteuert das Leben für die Mittel- und Unterschicht. Zwei der wichtigsten Wirtschaftszweige neben dem Bankenplatz sind der Immobiliensektor und der Tourismus. Doch der Bauboom in Beirut und anderen Teilen des Libanon trieb die Grundstückpreise und damit die Mietzinse in die Höhe. In vielen Cafés in Beirut kostet ein Kaffee genauso viel wie in Zürich. Gleichzeitig erhöhte die Zentralbank in den vergangenen zwei Jahren sukzessive die ohnehin schon hohen Zinsen, um den Dollarfluss ins Land anzukurbeln. «Doch damit ist der Anreiz für Vermögende hoch, Geld auf Konten zu parkieren. Dies führt zu einem Rückgang der privaten Investitionen», sagt Akkaoui. Die Folge: hohe Arbeitslosigkeit, tiefe Löhne, mehr Miete statt Eigentum. Zusammen mit den steigenden Lebenskosten treibt dies die Mittelschicht in die Armut und die Armen in den Ruin.
Ein Suizid aus finanzieller Not?
George Zreik, sagt sein Bruder, trieb seine wirtschaftliche Lage in den Suizid. Wenige Stunden bevor er sich anzündete, war er in der Schule seiner Kinder. Er wollte die Zeugnisse seiner Tochter abholen, um sie dann bei einer öffentlichen Schule anzumelden – denn die von der orthodoxen Kirche im Dorf geführte Privatschule konnte er sich nicht mehr leisten. Doch die Schule habe sich geweigert, sagt sein Bruder Schukri, zuerst solle George seine Schulden begleichen. Kurz darauf übergoss er sich vor dem Gebäude mit Benzin.
Das orthodoxe College teilte nach Georges Tod mit, man habe über Jahre hinweg ein Auge zugedrückt, weil er nicht die vollen Gebühren bezahlen konnte, und man bedauere den «schmerzhaften Vorfall», der zu Zreiks Tod geführt habe. «Die Schule behauptet, es habe sich nur um rund 600 Dollar Schulden gehandelt», sagt Schukri Zreik. Er glaubt, der Betrag, den die Schule von George Zreik forderte, liege eher bei etwa 5000 Dollar. «Wegen ein paar Hundert Dollar zündet sich doch niemand an.» Inzwischen hätten sich die Schule und die Witwe von George wohl irgendwie geeinigt, sagt Zreik.
Auch er selbst spürt den finanziellen Druck. Seit anderthalb Jahren fährt er wieder Taxi. Das tut er immer, wenn er gerade sonst keine Anstellung hat oder sein Einkommen nicht reicht – wie viele LibanesInnen. Der orange 1978er Mercedes ist nicht sein eigener; Zreik hat ihn gemietet, 25 000 Pfund oder rund achtzehn Franken zahlt er dafür jeden Tag. Am Ende eines Arbeitstags bringt er zwischen sieben und dreissig Franken nach Hause, sagt er, davon bezahlt er Essen, Wasser, Internet, die Stromrechnung der Regierung – sowie den Generatorenstrom, denn der Libanon hat selbst dreissig Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs noch immer keine stabile Stromversorgung.
Auch seine Kinder sind auf einer Privatschule der Kirche, denn die öffentlichen Schulen seien zu schlecht. «Der Priester bei unserer Schule ist grosszügig», sagt Schukri. Er müsse keine Schulgebühren zahlen. Und dennoch reiche das Geld am Ende des Monats kaum, um die Ausgaben zu stemmen. Wie zum Beweis, dass es nicht nur ihm so geht, spielt er am Ende des Gesprächs eine Sprachnachricht eines Freundes vor. Dieser bittet Schukri um siebzig Franken, damit er die Krankenhausrechnung für seinen Vater bezahlen kann. «Der Mann ist Soldat in der Armee. Er verdient über tausend Dollar im Monat», sagt er.
Eine gespaltene Gesellschaft
Doch warum gehen die LibanesInnen nicht zu Zehntausenden wegen ihrer Wirtschaftslage auf die Strasse? Die letzten Massenproteste wurden 2015 durch die Müllkrise ausgelöst, sie prangerten die Korruption der Regierung an. «Wir Libanesen sind gespalten», sagt Zreik, «alle folgen irgendeiner Partei.» Dabei wissen alle, wie korrupt die Elite ist. Doch viele fürchten, dass sie auch noch ihre letzten Privilegien verlieren, wenn sie sich gegen ihre politischen VertreterInnen erheben. Andere sagen, die LibanesInnen hätten schlicht die Hoffnung verloren, die Regierung durch Proteste zum Handeln zu bewegen. Am Wochenende zogen zumindest einige Hundert durch Beirut, um gegen den sinkenden Lebensstandard zu demonstrieren.
Von der Lethargie profitieren wiederum Parteien und Milizen auf allen Seiten. In Tripoli schlossen sich in den Anfängen des syrischen Bürgerkriegs Tausende junge Männer sunnitischen Milizen an, in den schiitischen Vororten im Süden Beiruts werden sie Mitglieder der Hisbollah. HochschulabgängerInnen finden kaum Jobs und versuchen, in den Golf oder nach Europa zu emigrieren. Mit ihren Geldüberweisungen zurück in den Libanon «stützen sie wiederum das System, das sie überhaupt erst in die Emigration trieb», wie Rosalie Berthier vom libanesischen Recherchenetzwerk Synaps schreibt. Und dazwischen sind Leute wie George und Schukri Zreik, die kämpfen müssen, um zu überleben. «Wenn es so weitergeht», sagt Schukri, «werden wir bald von Tausenden Georges hören, die dasselbe tun.»