Die EU nach dem Brexit: Startschuss zu einem hektischen Transit
Nach dreieinhalb zähen Jahren scheidet Grossbritannien am Samstag endgültig aus der EU aus. Das Schwerste steht aber erst noch bevor. Ein Ausblick auf unruhige Zeiten in sieben Fragen und Antworten.
Was ändert sich zum 1. Februar?
Im Alltag macht sich der Brexit zunächst kaum bemerkbar. Das Austrittsabkommen zwischen der EU und Grossbritannien sieht eine Übergangsperiode bis Ende Dezember vor; bis dahin bleibt das Vereinigte Königreich Teil des Binnenmarkts, und das EU-Recht samt Personen- und Warenfreizügigkeit bleibt in Kraft. Das Jahr 2020 wird damit zu einer Art Transitperiode, während derer die künftige Beziehung zwischen Brüssel und London ausgehandelt wird. Aufseiten der EU führt die neu gegründete Taskforce für die Beziehungen zum Vereinigten Königreich (UKTF) die Verhandlungen, die in Brüssel und London geplant sind. Ihr Leiter ist erneut Michel Barnier.
In den europäischen Gremien werden ab kommender Woche keine britischen VertreterInnen mehr sitzen. Das hat Auswirkungen auf die Verhältnisse im EU-Parlament, das nach dem Abschied der 73 britischen Abgeordneten 27 neue Mitglieder bekommt. Davon profitieren die konservative EVP-Fraktion (künftig 187 statt 182 Mitglieder) und die rechte «Identität und Demokratie» (76 statt 73). Hingegen verlieren die SozialdemokratInnen (148 statt 154), die Liberalen (97 statt 108) und die Grünen (67 statt 74 Mitglieder). Die RechtspopulistInnen werden somit zur viertstärksten Fraktion.
Wie geht es Ende des Jahres weiter?
Im Januar 2021 wird zum einen die Zollgrenze in der Irischen See wirksam, ein Kernelement im Austrittsabkommen vom Oktober. Dazu soll ein neuer Handelsvertrag die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Grossbritannien und der EU regeln. Premierminister Boris Johnson pocht bislang darauf, dass ein solcher in den kommenden elf Monaten geschlossen wird, was die Situation zusätzlich brisant macht. Für derlei Abkommen sind gemeinhin Marathonverhandlungen nötig. Zum Vergleich: Im Fall des Ceta-Abkommens zwischen der EU und Kanada dauerten die Verhandlungen sieben Jahre.
Reicht die Übergangszeit aus?
Daran haben sowohl EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen als auch Charles Michel, der Vorsitzende des Europäischen Rats, starke Zweifel geäussert. Tatsächlich handelt es sich um ein Rennen gegen die Zeit, das kaum zu gewinnen ist. Zwar bezeichnete Michel das künftige Verhältnis zwischen Brüssel und London zuletzt als «neues Kapitel als Partner und Alliierte». In Wirklichkeit aber stehen knallharte Gespräche bevor, die weit komplexer sind als der bisherige Brexit-Prozess, der überaus zäh verlief. Eines der heiklen Themen, die bald auf den Tisch kommen sollen, sind etwa die Fischereirechte.
Eine einmalige Verlängerung der Übergangsfrist um ein oder zwei Jahre ist möglich, sofern die beiden Seiten bis zum 1. Juli eine entsprechende Übereinkunft treffen. Nicht zu unterschätzen: Das würde auch eine interne Einigkeit der neuen EU27 voraussetzen. Einzelne Teile eines Abkommens, bei denen man eine Einigung schafft, können bereits ab 2021 in Kraft treten, während an anderen noch gefeilt wird. Je heikler die Themen sind, desto eher dürften sie also vertagt werden. Und es ist nicht auszuschliessen, dass dabei auch das Drohszenario eines «harten Brexit» wieder in den Diskurs zurückkehrt.
Welches Ziel verfolgt die EU in den Vertragsverhandlungen?
Die EU hat in erster Linie Interesse an einem ordentlichen Abkommen mit Grossbritannien – aber zugleich auch daran, dass das Land künftig Regeln und Standards der EU übernimmt. Grossbritannien hatte bislang das zweithöchste Bruttoinlandsprodukt der EU, die durch den Brexit also einen bedeutenden Teil ihrer wirtschaftlichen Kapazität verliert. Dass zudem eine als unlauter empfundene Konkurrenz vor der eigenen Haustür entsteht, die die einst gemeinsamen sozialen oder ökologischen Bestimmungen zu unterlaufen droht, will man tunlichst vermeiden. Insbesondere der französische Präsident Emmanuel Macron appellierte diesbezüglich bereits an die Regierung in London.
Welche Taktik verfolgt die EU?
Die UKTF muss im Wesentlichen eruieren, wie viel Grossbritannien an einem Deal samt engem Verhältnis zur EU liegt. Geht sie davon aus, dass die BritInnen Letzteres höher gewichten als den symbolpolitischen Gehalt zügig abgeschlossener Verhandlungen, wird sie ihrerseits Bedingungen stellen. Je grösser die künftige Nähe der BritInnen zum europäischen Binnenmarkt ausfällt, desto eher dürften sie bereit sein, EU-Standards zu übernehmen. «Es geht um ein Abkommen, das Zölle, Quoten und Dumping verhindert und ein gleiches Spielfeld schafft», so von der Leyen. «Aber je mehr man davon abweicht, desto weniger einfach wird der Zugang zum Binnenmarkt.» Und Emmanuel Macron warnte: «Ich denke nicht, dass man eine gute Beziehung zum einheitlichen europäischen Markt haben kann, wenn sich die Regeln bezüglich Klima, Umwelt, Ökonomie und Sozialem substanziell unterscheiden.»
Wie geschlossen steht die EU Grossbritannien gegenüber?
Inhaltlich gibt es in Bezug auf den Brexit zwei potenzielle Quellen der Uneinigkeit, die durchaus miteinander verbunden sind. Zum einen sind da die Umweltstandards: Der aktuelle Diskurs über den Green Deal der EU und dessen Umsetzung zeigt, dass mehrere östliche Mitgliedstaaten deutlich hinter die ambitionierten Pläne zurückfallen. Ökostandards «aus Brüssel» und Europas vermeintliche Regulierungswut sind aber auch in westlichen Ländern der Union vielen ein Ärgernis, was sich seit Jahren in rechtspopulistischer Rhetorik widerspiegelt.
Gleiches gilt für die Mitgliedszahlungen an die EU: Derzeit bahnt sich ein Tauziehen um den neuen «Finanzrahmen» an, den gemeinsamen Haushalt im Zeitraum von 2021 bis 2027, der nun erstmals ohne den britischen Beitrag von rund vierzehn Milliarden Euro auskommen muss. Die netto zahlenden Länder Schweden, Dänemark, Österreich, Niederlande und Deutschland wehren sich gegen höhere Beiträge. Für den 20. Februar hat Charles Michel soeben per Brief zum Sondergipfel nach Brüssel geladen. Es ist der erste ohne Grossbritannien, und allem Anschein nach wird es dort kriseln. Michel spricht von «Verhandlungen, die zu den schwierigsten der kommenden Zeit zählen». Nicht zu unterschätzen ist, dass der britische Austritt von identitären, nationalistischen Parteien auf dem ganzen Kontinent mit Interesse und Sympathie sehr genau mitverfolgt wird.
Wie steht die Schweiz in dieser Situation da?
Es ist kein Zufall, dass die Schweiz just in den genannten Kreisen manchen als Vorbild gilt: nicht in der EU und trotzdem – oder, in dieser Lesart, gerade darum – prosperierend. Auch im Fall des nahenden Brexit hat die Schweiz ihre Eigenständigkeit genutzt: Unter dem Namen «Mind the gap» schloss der Bundesrat schon 2018 und 2019 sieben Abkommen mit Grossbritannien, um auf einen geordneten und einen «No-Deal-Brexit» gleichermassen vorbereitet zu sein. Darin geht es unter anderem um Handel, Migration, Freizügigkeit und Verkehr. Damit sollen «die bestehenden gegenseitigen Rechte und Pflichten gesichert und gegebenenfalls erweitert werden», so das schweizerische Aussendepartement. Bislang basierte die Beziehung zwischen Bern und London auf dem bilateralen Vertrag mit der EU; in der Übergangsphase bis zum Jahresende bleibt dieser in Kraft und auch auf das Verhältnis zwischen der Schweiz und Grossbritannien anwendbar.