Brexit auf dem Festland: Bis zum letzten Hering

Nr. 50 –

Hier die überstaatliche Zusammenarbeit, dort der nationale Egoismus: Ganz so eindeutig, wie das viele in der EU gerne hätten, ist die Realität dann doch nicht.

Illustration: Marcel Bamert

Am Ende wurden die Verhandlungen zur Chefsache. Nach einem Telefonat am Montag vereinbarten der britische Premier Boris Johnson und Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission, ein «dinner for two» am Mittwochabend in Brüssel. «Wir sind uns einig, dass die Bedingungen für ein Abkommen noch nicht erfüllt sind», liessen sie in einer gemeinsamen Erklärung verlauten. Was aus dem Treffen hervorgeht, war bei Redaktionsschluss noch offen. Klar ist indes, dass sich das monatelange Ringen um ein Handelsabkommen auf der Zielgeraden befindet. Kommt es nicht zustande, wird der harte Brexit Realität: ein Ausstieg Grossbritanniens aus der EU ohne weiterführendes Abkommen.

Die Unterhändler, David Frost auf britischer Seite und Michel Barnier seitens der EU-Kommission, bekamen vor dem finalen Schlagabtausch den Auftrag, die chronisch umstrittenen Punkte zusammenzufassen: Zum Ersten geht es um das «level playing field», worunter ein fairer wirtschaftlicher Wettbewerb mit gleichen Auflagen und Standards beidseits des Ärmelkanals verstanden wird; zum Zweiten um die Frage, wie die Einhaltung dieser Spielregeln gewährleistet werden kann; und schliesslich um den Fischereisektor, der sich als überaus symbolträchtig erwiesen hat.

Bei 95 Prozent des Handelsabkommens besteht Einigkeit, wie es aus der Brexit-Steuerungsgruppe des europäischen Parlaments heisst. Die letzten 5 Prozent aber könnten alles zunichtemachen – oder doch noch gelöst werden.

Interner Konflikt

Gerade diese strittigen Punkte verdeutlichen, um welche Inhalte und vor allem um welche zugrunde liegenden Prinzipien es bei den Verhandlungen letztlich geht. In der allgemeinen Wahrnehmung ist die Konstellation recht simpel: Auf der einen Seite steht die britische Regierung, getrieben von einem populistisch-irrationalen Drang nach Eigenständigkeit um nahezu jeden Preis (vgl. «Souveränität ohne Einfluss» ), auf der anderen die EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten, die nach dem Abschied der Quertreiber von der Insel umso fester auf dem Boden der gemeinsamen Überzeugung steht.

Dieses Bild zeichnete auch Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rats, der sich vom belgischen TV-Sender VRT folgendermassen zitieren liess: «Wir haben unsere europäischen Werte. Die Briten müssen sich entscheiden, welche Standards sie befolgen wollen. Die wirkliche Frage ist, welches politische, wirtschaftliche und soziale Modell sie für ihre Zukunft wollen.»

Der Fokus auf die vermeintlich launischen und unberechenbaren Briten überdeckt dabei die Tatsache, dass diese Frage auch auf dem Kontinent längst nicht so deutlich beantwortet ist, wie es den Anschein macht. Dreht man die Frage nämlich um – welches Modell will denn die EU? –, so wird klar, dass es hier um einen ziemlich intensiven Konflikt um Werte und Interessen geht, der in den letzten Jahren an Dynamik gewonnen hat.

Am eindeutigsten ist die Lage noch beim wirtschaftlichen Wettbewerb. Das viel zitierte «level playing field» beinhaltet, dass beiderseits des Kanals die gleichen Standards beim Umwelt- und beim KonsumentInnenschutz, bei der Arbeit und im Sozialbereich gelten sollen. Um weiterhin Zugang zum EU-Binnenmarkt zu erhalten, darf das Vereinigte Königreich diese nicht unterlaufen. Zudem sollen die Subventionsregeln der EU eingehalten und Dumping verhindert werden. Auch was die staatlichen Beihilfen betrifft, sollen die EU-Vorschriften weiterhin das Mass aller Dinge bleiben. Hier herrscht unter den 27 EU-Staaten tatsächlich Einigkeit. Man setzt auf die gemeinsam erarbeiteten Standards und entspricht damit den «Werten», auf die sich Charles Michel beruft.

Aus dieser Konstellation ergibt sich die zweite Frage, nämlich die nach der praktischen Umsetzung dieser Spielregeln. Wie kann die angestrebte Wettbewerbsgleichheit garantiert werden? An welche Behörden oder Schiedsgerichte können sich europäische Unternehmen im Zweifelsfall wenden? Auch hier steht der Konsens, wonach gemeinsame, überstaatliche Institutionen dem britischen Drang nach nationaler Eigenständigkeit gegenübergestellt gehören.

Hochsymbolische Fischerei

Was nun aber die Umsetzung der Grundsätze angeht, verstricken sich die EU-Staaten durchaus in Widersprüche. Zwar warnten EU-PolitikerInnen schon zu Zeiten Theresa Mays vor einer britischen Niedrigsteuerpolitik, die InvestorInnen anlocken sollte. Zugleich haben sich Mitgliedstaaten wie die Niederlande, Irland und Luxemburg traditionell wenig um den fiskalpolitischen Grundsatz fairer Wettbewerbsbedingungen gekümmert. Ihre Reputation als europäische Steueroasen haben sie sich redlich verdient und sich dem Ruf nach Harmonisierung allzu lange entzogen.

Das Prinzip der Überstaatlichkeit mit seinen in fast siebzig Jahren gewachsenen Institutionen basiert auf einem oft haarfeinen Austarieren zwischen nationaler Souveränität und den erhofften Vorteilen europäischer Integration. Dieses Austarieren wiederum wird nirgends deutlicher als beim dritten Konfliktpunkt der Verhandlungen: dem Fischereisektor.

Dass die EU möglichst unbeschränkten Zugang zu britischen Gewässern behalten will, liegt zu einem Grossteil am symbolischen Wert der Fischerei in den erweiterten Nordsee-Anrainerstaaten Frankreich, Spanien, Portugal, Belgien, Niederlande, Deutschland und Dänemark. Mit 18 000 FischerInnen und 3500 Schiffen ist deren ökonomische Bedeutung überschaubar. Zugleich hat sie eine enorme propagandistische Kapazität: Das Motiv einer nationalen Regierung, die ihre Fischer vermeintlich unterstützt oder als Manövriermasse herumschiebt, zieht auch auf dem Kontinent.

Wie sehr, beweist ausgerechnet die französische Regierung von Emmanuel Macron, dem wichtigsten Fürsprecher der EU-Integration in den letzten Jahren. Kurz vor der entscheidenden Verhandlungsrunde kündigte Europa-Staatssekretär Clément Beaune in einem Interview in der Sonntagszeitung «Le Journal du Dimanche» an, dass Frankreich bei einem «schlechten Abkommen» sein Veto einlegen werde. Zudem habe man nicht die Absicht, die französischen FischerInnen den Folgen des Brexit-Referendums zu opfern.

In einer Reportage des niederländischen TV-Magazins «Nieuwsuur» wiederum wird der Direktor eines Fischereibetriebs mit den Worten zitiert: «Wir haben 400 Jahre in der Nordsee gefischt und wollen das auch in den kommenden 400 Jahren tun.» Der Direktor der Reedereivereinigung der Meeresfischer kommentiert derweil: «Hering hat die Niederlande als Fischereination gross gemacht. Wenn durch einen No-Deal-Brexit die niederländische Heringfischerei einstürzt, beendet man damit eine historische Linie, die im 14. Jahrhundert begonnen hat. Das kann man sich eigentlich nicht vorstellen.»

Das Thema Fischerei illustriert, dass das Verhältnis zwischen nationalen Interessen und den Vorteilen überstaatlicher, europäischer Kooperation immer wieder neu zur Debatte steht – etwa wenn, jenseits von Brexit-Verhandlungen, Frankreich in eigenen Gewässern niederländischen Booten das Pulsfischen untersagt. Ab 2021 wird die Elektrofischerei auf EU-Ebene verboten.

Die Frist läuft ab

Auch im grösseren Rahmen zeigt sich, dass die EU-27 nicht nur im Fall des abtrünnigen Grossbritannien mit einem Drang nach nationaler Souveränität konfrontiert sind, sondern auch im Inneren. Das Aufkommen populistischer Bewegungen und Parteien in nahezu allen Mitgliedstaaten belegt das. Und so gut wie immer nimmt deren Anspruch, endlich wieder selbst über das eigene Geld oder die eigenen Grenzen zu verfügen, auch «Brüssel» als Gegner ins Visier.

Um in dieser komplexen Gemengelage doch noch zu einer Lösung zu gelangen, bleibt der EU und Grossbritannien kaum noch Zeit. Mitte Dezember geht das britische Parlament in die Weihnachtspause. Und auch die anderen nationalen Parlamente sowie das europäische Parlament müssen ein allfälliges Abkommen noch fristgerecht bis zum 31. Dezember ratifizieren können. Sicher ist vorerst nur, dass der offizielle Brexit dann mit dem Ende der Übergangsfristen auf allen Ebenen vollzogen wird. Der EU-Gipfel, der am Erscheinungstag dieser WOZ stattfindet, dürfte hektisch werden.