Raphaela Edelbauer: Der Abgrund unter unseren Füssen

Nr. 6 –

Reise ins Landesinnere: In ihrem grandios versponnenen Erstling «Das flüssige Land» schraubt sich Raphaela Edelbauer in den hohlen Untergrund der österreichischen Provinz.

Österreich und seine Löcher wieder mal: Im Romandebüt von Raphaela Edelbauer ist eine ganze Stadt über einem Hohlraum gebaut. Foto: Dave Stamboulis, Alamy

Was war denn das? Man reibt sich die Augen nach diesem Roman, sucht vorsichtig Halt: endlich wieder festen Boden unter den Füssen. Als wär man drei Jahre weg gewesen, vielleicht auch sechs, spielt aber keine Rolle, die Zeit verging so oder so wie im Traum. Man taucht also auf wie nach einem Trip durch ein merkwürdig verschobenes Paralleluniversum: Planet Österreich, aber alles wie unter gewölbtem Glas. Schwankende Böden, die sogenannte Heimat ein Hohlspiegel.

Wobei das, streng nach den Massgaben der Vernunft, vielleicht gar nicht so verwunderlich ist, angesichts dessen, was die Erzählerin Ruth zu Beginn alles an pharmazeutischem Rüstzeug einpackt für ihre Reise: Xanor, Phenobarbital, Modafinil, Oxycodon … Was sie halt so braucht, um über die Runden zu kommen als chronisch überarbeitete Physikerin. Eigentlich sollte Ruth ihre Antrittsvorlesung schreiben, aber als die Nachricht vom Unfalltod ihrer Eltern sie ereilt, türmt sie und macht sich auf zu deren Heimatort, wo sie ihnen ein würdiges Begräbnis bereiten will.

Gross-Einland heisst das Kaff, aber die Tochter muss diesen abgekapselten Ort auch erst mal finden, verzeichnet ist er nirgends. Schon auf der Fahrt dahin beginnt sich also der literarische Raum, den Raphaela Edelbauer in ihrem Romandebüt aufspannt, eigenartig zu krümmen. Und als Ruth endlich dort ankommt, steht das putzige Städtchen buchstäblich vor dem Kollaps. Häuser stehen schief, auf dem Marktplatz hängt der Boden durch, da und dort klafft eine ominöse Öffnung im Erdreich. «Das Loch», sagt ein Einheimischer zu Ruth, als wärs das Selbstverständlichste der Welt, «es wächst.»

Vom Erdboden verschluckt

Österreich und seine Löcher wieder mal, das Thema ist ja nicht totzukriegen. Aber so, wie Raphaela Edelbauer diese Obsession hier ins Fantastische erweitert, lädt sie den ganzen Komplex nochmals völlig neu auf – sie nimmt das Motiv gleichsam beim Wort und überzeichnet es zugleich ins Allegorische. Denn was hier unter der Oberfläche verborgen ist, ist gerade keiner dieser bis zum Abwinken beschworenen metaphorischen Abgründe, sondern da lauert tatsächlich und überaus konkret: eine gähnende Leere. Gross-Einland ist auf einem gigantischen Hohlraum gebaut.

Und während die Einheimischen massenhaft Schutt in den Abgrund kippen, um Gross-Einland vor dem Einsturz zu bewahren, erscheint der Hohlraum unter der Stadt bald wie ein Silo für allerlei Projektionen – eine riesige semantische Echokammer, in der nicht zuletzt die unbewältigte Geschichte des Landes herumgeistert. Da waren etwa die 750 Zwangsarbeiter, die während des Zweiten Weltkriegs angeblich einfach vom Erdboden verschluckt wurden – verschwunden im Loch? Zwar bestreitet niemand im Ort, dass es irgendwo ein Massengrab geben müsste, aber Ruth kann die Erinnerung an die historische Schuld nirgends wirklich dingfest machen, selbst die obligate Gedenkstätte scheint sich ins Ungefähre verflüssigt zu haben. Nichts verdrängt oder vergessen, aber die Selbstverständlichkeit, mit der die Leute in Gross-Einland das Loch in ihren Alltag eingepasst haben, macht das eher noch schlimmer.

Im Filz der Heimat

Unvermeidlich, dass man hier zuweilen an Kafka denkt, aber man könnte Edelbauers Roman problemlos auch in der Kategorie «New Weird» einreihen, die sich in der englischsprachigen Literatur für solche Art von spekulativer Fiktion eingebürgert hat. Alles in diesem Gross-Einland ist amorph, aber die 29-Jährige erdet diesen physikalisch prekären Landstrich in einer ungemein plastischen Sprache. Als Ruth etwa das Gasthaus betritt, schlägt ihr ein Suppendunst entgegen, «als hätte man ein Rind in Stücke geteilt und samt Skelett ausgekocht, als würde das ganze Tier dampfförmig zwischen den Leuten verteilt in der Luft liegen».

In jeder Hinsicht auf unsicherem Grund, weiss die Physikerin bald nicht mehr, wo ihr der Kopf steht. Gleichzeitig geht ihre Integration in Gross-Einland schneller vonstatten, als ihr lieb ist: Als sie aus diesem surrealen Ort wegwill, wird ihr klar, dass sie in der Gemeinde bereits «heillos eingefilzt» ist. Vor allem aber trägt ihr die Obrigkeit eine unmögliche Mission auf: Ruth soll einen Füllstoff entwickeln, mit dem sich der Hohlraum aushärten liesse, um den Untergrund zu stabilisieren und damit alles in Gross-Einland «in einen soliden, nie mehr aufzubrechenden Mantel der Erstarrung zu führen».

Klar spiegelt «Das flüssige Land» auch das Verhältnis zum Nationalsozialismus, und klar ist dies nicht zuletzt ein Roman darüber, wie eine Gemeinschaft mit der dunklen Geschichte umgeht, die als Abgrund zu ihren Füssen liegt. Das hohle Fundament unserer Zivilisation: Hilft da wirklich ein Füllstoff, der das Ganze einfach in eine stabile Erstarrung überführt? Doch die Kraft dieses fantastisch schillernden Debüts liegt darin, dass der Hohlraum, um den alles kreist, so vieldeutig bleibt, sich nicht auf einen allegorischen Kern reduzieren lässt. Oder wie Ruth in einer abgründigen Erkenntnis festhält, als sie merkt, wie verdächtig schnell ihr Gross-Einland zu einer Heimat geworden ist: «Wurzeln schlagen ist dort leichter, wo vieles im Erdreich verrottet.»

Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land. Roman. Klett-Cotta Verlag. Stuttgart 2019. 350 Seiten. 34 Franken