Literatur: Ein Loch im Herzen der Schweiz

Nr. 33 –

Das Gegenteil einer Insel: Ganz sachte und bodenlos lakonisch hebt Lukas Maisel in seiner Novelle «Tanners Erde» das Leben eines Bergbauern aus den Angeln.

Da ist schon wieder ein Loch im Land. Keine drei Jahre ist es her, da kam alles ins Rutschen, in einem Kaff irgendwo in Österreich. «Das flüssige Land» hiess das grandiose Romandebüt von Raphaela Edelbauer: Überall klafften Löcher im Grund, Häuser standen schief, als könnten sie jeden Moment im Erdreich versinken. Kein Wunder, denn das ganze Städtchen war auf einem gigantischen Hohlraum gebaut.

Im Vergleich dazu nimmt sich das ominöse Loch, das nun bei Lukas Maisel einen Schweizer Bergbauern in seiner ganzen Existenz aus dem Lot bringt, geradezu bescheiden aus: sechs Meter Durchmesser, Tiefe noch unbestimmt. Auch sonst kann man diese Novelle getrost als helvetische Antwort auf «Das flüssige Land» lesen. Die Schweiz hat ja auch ein etwas zwanghaftes Verhältnis zu ihren Löchern: Käse, Tunnels, Tresore. Der Bauer bei Maisel reagiert dann erst mal ganz praktisch, als eines Tages plötzlich dieses Loch in der Wiese klafft und sein Nutzland unbrauchbar macht: Holzlatten drüber, Plane drauf, fertig. Abdecken, was stört. Doch dann passiert ein kleines Unglück, und bald darauf: siehe, ein zweites Loch gleich neben dem ersten. Was aber macht ein Schweizer, wenn Zudecken nicht hilft? Richtig, er erstattet Anzeige.

An der Grenze zur Schablone

In seinem Erstling hatte es Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, noch weit in die Ferne gezogen. «Buch der geträumten Inseln» (2020) hiess der Gelehrtenroman, in dem er einen Forscher auf Expedition nach Papua-Neuguinea schickte. Diesmal bricht das Ungewisse auf der heimischen Scholle ein. Im Roman tauchte eine Figur namens Unland auf, und genau darum dreht sich «Tanners Erde» jetzt: um eine Negation von Land, gewissermassen das Gegenteil einer Insel. Was den Bauer an dem Nichts mitten auf der Weide am meisten wundert: Wieso liegt da kein Aushub? «Schaufelt er ein Loch, dann wächst daneben ein Haufen, so hoch, wie das Loch tief ist.» Doch dieses Nichts hier scheint selber aus dem Nichts gekommen: «Tanner wird fast schwindlig von so viel Nichts.»

Tanner heisst dieser Bauer, ein Name, mit dem er sich in der Schweizer Literatur in eine illustre Ahnenreihe einfügt. Da sind die «Geschwister Tanner» von Robert Walser, da ist vor allem auch Meinrad Inglins «Der schwarze Tanner», verfilmt von Xavier Koller. Bei Inglin ist Tanner ein Bauer, der sich der verordneten Anbauschlacht widersetzt, eine Michael-Kohlhaas-Figur im Kampf gegen die Behörden und für das, was er für richtig hält, stur bis in den Tod. Maisels Bergbauer ist von ganz anderem Temperament. Ein Brocken wohl, aber nicht grob. Wenn er seine Kälber in den Schlachthof bringt, rebelliert leise sein Körper: mit Nasenbluten.

Er ist mitunter an der Grenze zur Schablone gebaut, dieser Tanner: einer, der zupackt, grundanständig, aber auch sehr verstockt. Seine Frau liebt er aufrichtig, aber wenn er ihr etwas sagen will, was über das Allernötigste hinausginge, sind ihm alle Worte entweder zu klein oder zu gross, also schweigt er dann doch lieber. «Loch ist Loch und über Löcher spricht man halt nicht», heisst es einmal. So wird das Loch, über das Tanner mit seiner Frau nicht spricht, allmählich zum Abgrund, der sich zwischen den beiden auftut.

Verzweifeln wäre einfacher

Doch wo etwa Michael Kochs Film «Drii Winter», der demnächst ins Kino kommt, den Typus vom sprachlosen Bergler eher zementiert, läuft Maisel nie Gefahr, seine Figur dem Klischee auszuliefern. Dazu ist die scheinbar naive Ironie, mit der er diesen Tanner begleitet, im Ton zu eigenwillig: «Der Mensch ist machtlos im Vergleich zum Grossen und Ganzen, niemand schaut auf einen Berg und fragt sich, welche Baufirma dahintersteckt.» Die alltäglichen Handgriffe des Bauern bei seiner Arbeit nehmen einigen Raum ein, dann wieder wird der Leidensweg dieser Hiobsfigur mit einem parabelhaften Abriss über die Ursprünge von Viehzucht und Ackerbau punktiert. Darf man das biblischen Sarkasmus nennen? Und was unterscheidet eigentlich eine Hostie von einem Bierdeckel, rein geschmacklich?

Ein Loch im Herzen der Schweiz: Klar ist man versucht, das auch metaphorisch zu lesen. Aber anders als bei Raphaela Edelbauer bleibt man hier selbst dann auf dem Boden, wenn dieser nachgibt. Und wo «Das flüssige Land» barock ausschweift, hält Lukas Maisel seine Sprache lakonisch, trocken, exakt. Die unerhörte Begebenheit vom Loch in der Erde benutzt er auch nicht für einen Flirt mit dem Fantastischen. Da ist gar kein Mysterium – die jungen Fachleute von der Uni, die den Erdfall inspizieren, liefern dem Bauern ja die wissenschaftliche Erklärung für das Phänomen. Bloss, was nützt ihm das Wissen, wenn Tanner sein Vieh nicht mehr auf die Weide lassen kann?

Keine Metaphysik hier, die Löcher in «Tanners Erde» haben nichts Ominöses. Nicht sie sind es, die den Bauern letztlich kaputtmachen, es ist der demokratische Gemeinsinn samt falschem Männerstolz, wie ihn auch Tanner verkörpert. Oder wie es einmal über ihn heisst: «Es muss ihm gut gehen, das ist wahr, aber verzweifeln wäre jetzt einfacher.» Verzweiflung gesteht er sich höchstens im Konjunktiv zu: Schon lange keinen so bodenlos schweizerischen Satz mehr gelesen.

Buchvernissage in: Zürich, «Sphères», Mittwoch, 24. August 2022, 20 Uhr. Moderation: Monika Schärer.

Lukas Maisel: Tanners Erde. Novelle. Rowohlt Verlag. Hamburg 2022. 126 Seiten. 34 Franken