Kommentar zur Agrarpolitik: Die Fleischunvernunft

Nr. 8 –

Die neue Agrarpolitik ist nicht nur schlecht. Doch die BäuerInnen können die Umweltprobleme nicht allein lösen.

Wer hat den Erdbockkäfer gesehen? Er ist nicht einmal zwei Zentimeter klein, hat lange Fühler und lebt in trockenen Wiesen – oder besser: lebte. Die Universität Basel hat eine Langzeitstudie über ihn gemacht: In nur zwanzig Jahren sind in der Region Basel neunzig Prozent der Erdbockkäfer verschwunden. Die Gräser, auf die er spezialisiert ist, mögen nährstoffarme Böden und sind darum selten geworden. Und die Insektizide aus Obstplantagen erträgt er ganz schlecht. Der kleine Käfer bekommt weniger Aufmerksamkeit als die vielen Grundwasserfassungen im Mittelland, in denen Pestizidgrenzwerte überschritten werden. Doch sein Verschwinden ist Teil der gleichen fatalen Entwicklung.

Der Druck der besorgten Bevölkerung erreicht die Politik: Letzte Woche hat die Wirtschaftskommission des Ständerats einen «Absenkpfad Pestizide» lanciert, der ambitionierter ist als die bisherige Strategie des Bundes. Zwei Tage später veröffentlichte der Bundesrat die Botschaft für die nächste agrarpolitische Reformetappe, die AP 22+. Um den Düngerüberschuss zu senken, will er nur noch zweieinhalb statt drei Grossvieheinheiten pro Hektare zulassen. Die Pestizidauswahl wird eingeschränkt, der -verzicht belohnt. Der Bundesrat will auch diverse freiwillige Programme ins Leben rufen, für schonende Bodenbearbeitung, langlebige Kühe oder Agroforst, die Kombination von Ackerbau und Bäumen. Im Obst- und Rebbau setzt er Anreize, probeweise auf synthetische Pestizide zu verzichten. Die ewigen Klagen über die mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Landwirtschaft stehen auch diesmal in der Botschaft, aber weniger im Vordergrund als bei anderen Reformetappen.

Einiges macht also Hoffnung an der AP 22+, auch wenn es nicht genügt. Das generelle Problem der Agrarpolitik bleibt: Es geht in der Botschaft um Feld und Stall – was danach kommt, wird ausgeblendet. Der Branchenverband Bio Suisse kritisiert das zu Recht: Viele europäische Länder versuchen, ökologische Lebensmittelproduktion vom Feld bis auf den Teller zu fördern, besonders in der öffentlichen Gastronomie. In der Schweiz hingegen ist die sogenannte Wahlfreiheit der KonsumentInnen immer noch sakrosankt, und auf viele Schulmittagstische kommen Menüs aus Billigzutaten. So fördert man keine verantwortungsbewussten KonsumentInnen.

Kaum jemand in Stadt und Agglo hat noch Verwandte in der Landwirtschaft. Da gibt es nichts Einfacheres, als über «die Bauern» zu schimpfen. Als hätte nicht der Bund das ganze 20. Jahrhundert lang versucht, die Landwirtschaft zu einer Industrie zu machen, und an den Schulen die entsprechende Ideologie vermittelt. Als würde die Basler Chemie nicht bis heute kräftig an Pestiziden verdienen. Als hätte das eigene Einkaufsverhalten nichts mit Düngerüberschüssen, Pestiziden und ausgeräumten Landschaften zu tun. Noch immer kauft eine überwältigende Mehrheit nur selten Biolebensmittel. Armut können die meisten von ihnen nicht als Argument vorbringen. Es genügt nicht, bei der Produktion anzusetzen: Solange die Nachfrage nach Fleisch so hoch ist, kann man den LandwirtInnen nicht verübeln, dass sie versuchen, diesen Markt zu bedienen. Ohne einen viel tieferen Konsum insbesondere von Schwein und Poulet, die Unmengen an Importfutter vertilgen, ist eine vernünftige Landwirtschaft schlicht nicht möglich.

Am Samstag demonstriert die neue, mit dem Klimastreik vernetzte Bewegung «Landwirtschaft mit Zukunft» in Bern. Sie fordert eine radikal ökologische und soziale Landwirtschaft. Aber sie stellt die Bäuerinnen und Bauern nicht in die Sündenbockecke, sondern arbeitet mit ihnen zusammen, etwa mit der Kleinbauern-Vereinigung und der bäuerlichen Gewerkschaft Uniterre. Als Teil der Klimabewegung hat die Kritik am landwirtschaftlichen Status quo eine andere Berechtigung: Alles muss sich ändern – auch die Landwirtschaft.