Theaterfestival: «Hier sind junge Leute, die Bock haben, Theater zu machen»

Nr. 8 –

Zürich hat ein neues Festival, die «Grätsche» im Kulturhaus Dynamo: Junge Theaterschaffende organisieren sich selbst und zeigen in unterschiedlichsten Ausdrucksformen, was sie bewegt.

Entziehen sich den Erwartungen des Publikums und lassen sich selbst überraschen: Das Theaterkollektiv Jungthaeter mit seinem Stück «Mer warted». Foto: Lara Ziörjen

Zum Ticken einer Uhr sitzen sie in einer Reihe dem Publikum gegenüber und warten. Viel mehr passiert tatsächlich nicht im Stück «Mer warted» des Zürcher Theaterkollektivs Jungthaeter. Und doch entsteht während der folgenden Stunde so einiges. Das Warten bildet für die sechs DarstellerInnen den Freiraum, in den sie sich mit viel Neugierde und feinem Gespür hineinbegeben und den sie mit improvisiertem Spiel gleichsam austesten. Durch kleine Veränderungen in der Sitzposition oder im Gesichtsausdruck, durch Atmen, Husten und andere Geräusche, schliesslich auch durch einzelne sich wiederholende Wörter entsteht ein immer wieder skurril-witziger Verlauf, dem man aufmerksam folgt – und sich selber dabei ertappt, mit Spannung auf etwas zu warten.

Aber die SchauspielerInnen bedienen diese Erwartung nicht, sie erzählen keine Geschichte. Sie lassen sich selber überraschen, was sich durch das Nichtstun und Nichtswollen zeigt. Und so entstehen, ohne Pathos und wie beiläufig, Momente von grosser Tiefe. Die sechs Leute verknoten sich mit ihren weissen Kleiderfetzen ineinander, suchen gegenseitig nach ihrem Herzschlag, versuchen, den Rhythmus in den grossen Fragen (Was? Wann? Warum?) zu finden. Sie spielen damit wie mit Bällen und verhindern jede philosophische Schwere. Sie bieten sich dem Publikum als Projektionsfläche an – nur um sich am Ende, wie peinlich berührt von der Blösse, die sie sich soeben gegeben haben, dem Angeschautwerden wieder zu entziehen und das Weiss unter ihren Alltagskleidern zu verbergen.

Vernetzen und voneinander lernen

Jungthaeter ist eine von insgesamt dreizehn Gruppen aus der Schweiz und Deutschland, die letztes Wochenende im Zürcher Kulturhaus Dynamo aufeinandergetroffen sind. «Grätsche» heisst dieses neue Festival, das sich als Plattform für junge selbstorganisierte Gruppen versteht. Vier Tage lang machten sie sich in den Räumen des Dynamo breit und bespielten dabei Saal, Keller und Probebühne.

Entstanden ist die Grätsche letztlich aus einer unglücklichen Terminkollision, wie Mitorganisatorin Hélène Hüsler erzählt: Vor einigen Jahren hätten drei Zürcher Theaterkollektive, darunter auch die Jungthaeter, in derselben Woche Premiere gehabt. «Wir haben uns gegenseitig das Publikum weggenommen», erinnert sich Hüsler. «Wie konnte das passieren?» Statt sich weiter zu konkurrieren, haben sich die jungen Leute daraufhin zusammengesetzt und nach einem anderen Weg gesucht. Schnell seien sie auf die Idee eines gemeinsamen Festivals gekommen – die sie nun innerhalb von eineinhalb Jahren realisiert haben.

Die Grätsche soll die Gelegenheit bieten, sich zu vernetzen und auch voneinander zu lernen. Deshalb gibt es neben den öffentlichen Vorführungen auch interne Workshops, die die teilnehmenden Gruppen untereinander anbieten. Ausserdem gehe es darum, dem jungen Theater mehr Sichtbarkeit zu verschaffen: «Zürich schreit von links und rechts nach Theaternachwuchs», so Hüsler. Dabei gebe es diesen schon lange. «Hier sind junge Leute, die Bock haben, Theater zu machen – und zwar unabhängig von irgendwelchen Institutionen. Das wollen wir einfach mal zeigen.»

Mal professionell, mal eher ungelenk

Vernetzung und Sichtbarkeit: Was sich die GründerInnen der Grätsche vorgenommen haben, scheint sich an diesem Wochenende zu erfüllen. Es ist ein elektrisierendes Gewusel im Gebäude, junge Menschen tummeln sich draussen an der Limmat, vor der Tür, an der Kasse. HelferInnen stehen vor den Eingängen zu den Spielräumen und rufen nach dem Ende eines Stückes gleich den Beginn des nächsten aus.

Die Vielfalt auf den Bühnen ist beeindruckend. Vom Improvisationsstück der Jungthaeter über eine poetisch-dichte Tanzperformance der Flux Crew, vom Spiel mit Versatzstücken verzerrter Weiblichkeitsbilder bei der feministischen Gruppe Die Wölfinnen bis hin zum tastenden Suchen nach Nähe in einem Stück der Freien Bühne Kreuzlingen: In aller Unterschiedlichkeit öffnet sich ein Panorama dessen, was junge Menschen bewegt. Das Niveau ist manchmal professionell, manchmal ungelenk. Was aber alle Darbietungen verbindet, sind die Spielfreude und das leidenschaftliche Bedürfnis der jungen Leute, von sich selber zu erzählen, sich zu zeigen.

Wie bei der Grätsche im Fussball, bei der eine Spielerin der anderen mit einem horizontalen Hineinschlittern den Ball abnimmt, stehe der Name des Festivals für eine entschlossene, freche Aktion, erklärt Hüsler. «Man übernimmt eine Handlung in einem bestehenden Treiben. Aber man kommt nicht von oben rein, macht es nicht kaputt, man untergräbt es auch nicht von unten.» Nach diesem Wochenende ist klar: Die jungen Theaterschaffenden grätschen einander vielleicht immer noch den Ball ab – aber sie tun es jetzt zusammen im selben Spiel, vor gemeinsamem Publikum. Und lernen voneinander.

www.graetsche.ch