Erwachet!: Zurück in Corona City
Michelle Steinbeck landet in einer gespaltenen Stadt
Im Morgengrauen fahren wir über die Grenze und in die Stadt hinein. Niemand hat uns aufgehalten, alles schläft. Nur die Krähen sind aus ihren Nestern hochgeschreckt und beobachten nun argwöhnisch das hoffnungslose Manöver, den Umzugslaster in einen winzigen Blaue-Zone-Parkplatz zu bugsieren. Das Scheitern wird von hämischem Gelächter und Flügelschlagen begleitet.
Wir geben auf und fahren weiter, ziellos, durch die leeren Strassen. Die einstmals traute Umgebung gleicht einer Geisterstadt. Darauf sind wir nicht vorbereitet. Da, wo wir herkommen, hat sich das Virus noch nicht ausgebreitet; in den Supermärkten sind die Regale voll, und junge Frauen husten noch ungestraft alte Männer an – «Reg dich nicht auf, Opa, ist bloss Asthma.»
Im nächtlichen Schneesturm auf der Autobahn haben wir Radio gehört, mehr um nicht einzuschlafen als um uns gezielt zu informieren. Die Pro Senectute rät, den Kontakt zu Grosseltern noch nicht abzubrechen; Videotelefonie sei eine sichere Option. Da hätten wir auch gleich in der Ferne bleiben können. Mir fällt ein, dass meine Grossmutter schon immer ganz versessen darauf war, dass wir uns ständig die Hände waschen. Wenn wir doch mal mit ungewaschenen Fingerchen am Tisch landeten, fiel wie ein Fluch der lauwarme, stinkende Lumpen über uns her – nicht nur für die angeblich so klebrigen Händchen, auch fürs Gesicht!
Wie ich so in Nostalgie schwelge, betrachte ich die traurigen Schaufenster der Coiffeursalons und Bäckereien. Girlanden und gruslige Elsässer Larven, recycelte Räppli, die vergebens darauf warten, in Krägen von grob gepackten, im Schwitzkasten zappelnden, kreischenden Mädchen gestopft zu werden. Heuer bleibt es ruhig. Aber wie lange noch?
Die Mehlsuppe brodelt. Die Stadt ist gespalten. Mindestens die halbe Bevölkerung verbringt das ganze Jahr damit, sich nach Feierabend freiwillig in einen miefigen Keller zu begeben, um dort mit Gleichgesinnten in Vorbereitung auf die drei schönsten Tage zu dichten, zu trommeln und zu basteln. Es ist Tradition. Und heuer für die Tonne. Kein Wunder, dass da dem einen oder der andern die Zibelewaie platzt. Die Fälle von verprügelten Fasnachtsflüchtenden häufen sich – sie werden beschuldigt, noch mehr Virus aus dem Ausland zu bringen.
Die Regierung versucht mit allen Mitteln, die Situation zu entschärfen. Die Werbebildschirme an den Bushaltestellen zeigen kleine Waggis aus Karton, dazu den Claim «Hol die Fasnacht zu dir nachhause – mit dem 3D-Puzzli». Aber was ist das? Wie wir über den Barfi Richtung Marktplatz fahren, zoggelt heimlich eine Gruppe Holzbeschuhter vorbei. Offenbar haben sich nicht alle mit dem Puzzli zufriedengegeben. Vor dem Rathaus spielen sie anklagend Blockflöte und stellen Grabkerzen auf, die Polizei schaut zu, und Tränen rollen über die Atemschutzmasken.
Wir kehren um, hier finden wir auch keinen Parkplatz. Für mich ist klar: Wenn ich erst mal angekommen bin, werde ich mich an die Quarantäne halten. Für Autorinnen ist so eine Krise nämlich nicht unpraktisch: Sie können endlich in Ruhe ihre Romane fertig schreiben.
Michelle Steinbeck ist Autorin. Für ihre Arbeit schliesst sie sich regelmässig zu Hause ein. Das fördert die Fantasie.