Erwachet!: Last Man Standing

Nr. 24 –

Michelle Steinbeck fährt Zug mit einem Hecht

Der Businesshecht im Zug nach Zürich weiss: Masken sind für Kranke. Deshalb wird er nie eine brauchen. Wenns drauf ankommt, hält er noch eine feurige Präsi mit saftender OP-Narbe, dafür ist er im Büro bekannt. Alt und schwach, das sind die anderen. Er ist im besten Alter und dynamisch; vom Chinesen lässt er sich schon mal gar nicht einschüchtern.

Er hustet dynamisch in die Armbeuge. Sofort heften sich ein paar angstvolle Blicke auf ihn. Er ist das gewohnt. Er strahlt eine natürliche Autorität aus. Beim Riverrafting- Teambuilding-Ausflug hat er alle andern aus dem Boot geworfen – er war der Last Man Standing. Während Daniel Koch, die Pfeife, beim Sprung in die Aare unterm Anzug Neopren trägt. Und alle fallen drauf rein. So was will ein Leader sein.

Er hustet wieder, fester, ein angenehmer Schmerz fährt ihm durch die Lunge. Das wird eine schöne Vernarbung geben, denkt er zufrieden. Was ihn nicht umbringt, macht ihn noch stärker. Die Leute im Abteil schauen jetzt böse. Er kann Gesichter lesen wie kein Zweiter, deshalb ist er im Team auch immer zwei Schritte voraus. Am besten spürt er Unsicherheit, darauf geht er ab wie ein Bluthund. Zum Beispiel die Alte schräg gegenüber, die panisch aus dem Fenster schaut. Wer als Risikogruppe Zug fährt, ist selber schuld. Seine Mutter ist im Altersheim eingesperrt seit März, und das ist gut so. Nun ist er ganz fürsorglicher Sohn, wenn er sie nicht besuchen kommt.

Sowieso: dieser Hype ums Sterben. Am liebsten würde er rufen: «Spoiler! Niemand lebt ewig!» Für die AHV eh besser, wenn sich heuer ein paar mehr abmelden. Die müssen wir schliesslich alle mittragen. So ein Virus macht natürliche Selektion. Körperlich und finanziell: Wer es nicht durch die Krise schafft, ist nicht für diese Welt gemacht. Aber mit Stolz untergehen, das kennt man heute nicht mehr.

Und die in Bundesbern befeuern das noch: Mit der Giesskanne lassen sie Geld regnen, selbst auf die zerfressensten Pflänzchen. Aber Unkraut vergeht nicht. Im Gegenteil, die wollen immer mehr. Es ist ihm persönlich peinlich, wie sich die grössten Sozialschmarotzer nun aufspielen und nach Unterstützung krähen. Den ganzen Sommer gegeigt, und jetzt beschweren, dass nichts im Speicher ist?

Vor Ärger bricht der Husten aus ihm. Er spürt, wie er Angst verbreitet. Obwohl er das Gefühl selber nicht kennt. Er hat die Tür dafür geschlossen, sonst könnte ja alles kommen. Krebs. Klima. Krise. Konzernverantwortungsinitiative. Nein, mit der Angst fängt er gar nicht an. Die lässt er den Paranoiden. Wie der jungen Frau, die ihm gegenübersitzt. Die trägt sogar eine Maske. Er schämt sich für sie. Es sieht so dumm aus. Weiss die nicht, dass die Maske sie gar nicht schützt? Er hustet einmal extra. Jetzt verschanzt sie sich hinter einer Zeitung. Aha, natürlich die WOZ. Die wird dich auch nicht retten, hähä. Denen fällt auch nie nichts Neues ein: Krankenschwestern, Kassierinnen – angeblich unterbezahlt. Never gets old.

Jetzt wird ihm aber der Ausländer in seinem Rücken langsam lästig. Telefoniert in einer Lautstärke mit der Familie im Entwicklungsland und lässt seinen Mouth Rain ungeschützt fliessen. Der hat sicher den Chinesenvirus. Der Hecht überlegt, ob er sich umsetzen soll. Aber es könnte als Schwäche gedeutet werden. Nein, er bleibt sitzen. Und hustet noch lauter.

Michelle Steinbeck ist Autorin. Sie ist für eine Maskenpflicht zu Stosszeiten.