Extremismusforschung: Bedenklich naiv

Nr. 11 –

Die Gesellschaft ähnle einem Hufeisen mit einer demokratischen Mitte und zwei gleichermassen bedrohlichen Polen. Wie dieses Bild die Demokratie gefährdet, zeigt ein neuer Sammelband.

Für Sigmar Gabriel ist der Fall klar: «Es lässt sich nicht abstreiten, dass linke Chaoten auf Polizisten eindreschen, Autos und Mülltonnen in Brand setzen», schreibt er auf Twitter, nachdem ein Rechtsradikaler in Hanau zehn Personen ermordet hat. Damit outet sich der ehemalige deutsche Vizekanzler als Anhänger der Hufeisentheorie, die rechten und linken Extremismus gleichsetzt. Dass an dieser so einiges nicht stimmt, ahnt, wer sich vergegenwärtigt, dass in Deutschland seit der Wende rund 200 Menschen durch rechte Gewalt gestorben sind. Bis in die «bürgerliche Mitte» scheint dies allerdings noch immer nicht vorgedrungen zu sein.

Der von MitarbeiterInnen der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank herausgegebene Band «Extrem unbrauchbar» kommt deshalb zur rechten Zeit. In gut zwanzig Beiträgen wird die Hufeisentheorie umfassend zerlegt. Besonders lohnenswert sind dabei der erste Teil, der die Theorie historisch verortet, und der vierte Titel, der die «Mitte» als Konstruktion entlarvt.

Vertuschte Ursprünge

Packend ist etwa Daniel Keils Untersuchung über den verdrängten nationalbolschewistischen Ursprung der Theorie. Die Schwarze Front, eine Abspaltung der NSDAP, bemühte das Hufeisen, um sich im Leerraum zwischen dessen Polen zu verorten, also zwischen Nazis und KPD. ExtremismusforscherInnen brauchten diese Selbststilisierung bloss umzukehren und dabei deren Herkunft zu vertuschen: Auch die demokratische Mitte liegt nun zwischen den beiden Polen, wenn auch nicht im Leerraum des Hufeisens, sondern auf dem diesem gegenüberliegenden Bogen. Um diese Auffassung zusätzlich zu legitimieren, ergänzte man sie durch eine fragwürdige Lesart von Hannah Arendts Totalitarismustheorie, die Nationalsozialismus und Kommunismus einander gleichsetzt.

Eine ähnliche Gleichsetzung kam bereits zuvor zahlreichen Altnazis zupass, wie Katharina Rhein in ihrem Beitrag erklärt. Deren Antikommunismus beschleunigte nicht nur ihre Integration in die BRD und ermöglichte es ihnen, sich in der politischen Bildung zu engagieren. Er erlaubte es ihnen auch, ihren Antisemitismus codiert beizubehalten.

Die Ausblendung dieser Traditionslinien ist bezeichnend. Auch gegenwärtig, so zeigt das Buch, bleiben die (zumeist männlichen) ExtremismusforscherInnen oberflächlich: Als «extrem» gelten ihnen nur bestimmte Handlungen und Begriffe. Dabei übersehen sie, dass ein menschenverachtender Inhalt durch eine geschickte Wortwahl auch relativ unscheinbar daherkommen kann. Etwa, wenn Björn Höcke von einer «Remigration» von «kulturfremden» Menschen spricht.

VertreterInnen der Hufeisentheorie erweisen sich dabei oft als nützliche IdiotInnen: Indem sie Meinungsfreiheit mit der Pflicht verwechseln, selbst VertreterInnen einer völkischen Ideologie eine Bühne zu geben, sorgen sie für deren Legitimierung. Diesen Irrglauben, man könne «IdeologInnen mal eben im Gespräch zu DemokratInnen erziehen», stellt Eva Berendsen in ihrem Beitrag heraus: Weil der neurechte Verleger Götz Kubitschek nicht Glatze und Springerstiefel, sondern Sakko trägt, widmen bürgerliche Zeitungen ihm Homestorys.

Die unmenschliche Mitte

Kein Wunder, zeigt eine genauere Betrachtung der «Mitte», dass die Saat der Neurechten aufgegangen ist. Das erläutert etwa Tom Uhlig am Beispiel der Seenotrettung, bei der das, was die Gesellschaft leisten sollte, dem Engagement von Einzelpersonen überlassen wird. Deren verzweifelter Einsatz gegen die allgemeine Kälte riskiert allerdings, diese zugleich zu bestätigen, sagt er doch aus, dass auf die Gesellschaft nicht zu hoffen sei. Der Appell ans Mitleid mit einzelnen Geflüchteten bestätigt dabei die allgemeine Unmenschlichkeit: So drucken bürgerliche Medien Bilder des ertrunkenen dreijährigen Alan Kurdi ab, um andernorts zu betonen, dass eben nicht alle aufgenommen werden könnten.

Das menschenfeindliche Potenzial der bürgerlichen Mitte müssen ExtremismusforscherInnen zwangsweise übersehen. Rassismus und Sexismus gelten ihnen vornehmlich als das Problem von Minderheiten. Von MuslimInnen etwa, die dabei zum homogenen Anderen gemacht werden, wie Saba Nur-Cheema in ihrem Beitrag herausarbeitet. Ähnlich ergeht es jenen, die sich für geschlechtliche Vielfalt einsetzen. Charlotte Busch und Julia König beschreiben, wie man progressive FeministInnen und LGBTIQ aus der Mitte der Gesellschaft zu verdrängen versucht, indem man sie als «extrem» beziehungsweise nicht normal darstellt. Damit hebt man sie auf eine Ebene mit reaktionären AntifeministInnen.

Zugegeben: Viele dieser Kritikpunkte sind nicht neu. Doch hat im deutschsprachigen Raum ein solch gründlich recherchierter Sammelband zum Thema bis jetzt gefehlt. Schade ist einzig, dass die Texte auf Deutschland fokussieren. Es bleibt zu hoffen, dass die HerausgeberInnen einen zweiten Teil nachlegen, der auch andere Länder in den Blick nimmt. Viele der von ihnen beschriebenen Tendenzen finden sich schliesslich auch anderswo – zum Beispiel in der Schweiz.

Katharina Rhein (Hrsg.), Tom Uhlig (Hrsg.) und Eva Berendsen (Hrsg.): Extrem unbrauchbar. Über Gleichsetzungen von links und rechts. Verbrecher Verlag. Berlin 2019. 240 Seiten. 24 Franken