Auf allen Kanälen: Glasklar in den Untergang

Nr. 12 –

Neben «Parasite» war noch ein zweiter südkoreanischer Film für einen Oscar nominiert. «In the Absence» zeigt exemplarisch, wie man Ordnung in die Hysterie des Nachrichtenstroms bringt.

In der Freude über die vier Oscars für das südkoreanische Sozialdrama «Parasite» ist fast untergegangen, dass noch ein weiterer ausgezeichneter Film aus Südkorea nominiert war. «In the Absence» war im Rennen um den Preis für den besten Kurzdokumentarfilm, und man kann ihn als Begleitstück zu «Parasite» lesen: Wo der Spielfilm die brutale Klassengesellschaft in Südkorea – und in der ganzen kapitalistischen Welt – sowohl persifliert als auch dramatisiert, schildert «In the Absence» mit dokumentarischer Präzision das Staatsversagen und die Verachtung der Eliten gegenüber normalen BürgerInnen, die sich 2014 beim Untergang der Fähre Sewol offenbarte.

Damals starben 304 Menschen, darunter 250 SchülerInnen, die auf einem Ausflug waren. In nur 29 Minuten schafft es Regisseur Yi Seung-jun, auch einem nichtkoreanischen Publikum zu zeigen, weshalb dieses verheerende Unglück die südkoreanische Gesellschaft so erschütterte – letztlich führte es gar, zusammen mit mehreren Korruptionsaffären, zur Absetzung von Präsidentin Park Geun-hye. «In the Absence» konzentriert sich jedoch auf das eigentliche Ereignis. In simpler chronologischer Reihenfolge zeigt der Film mit Archivmaterial, veröffentlichten Telefongesprächen zwischen Behörden und Interviews mit Hinterbliebenen, was wann passierte. Das mag erst einmal banal klingen, doch in Zeiten, in denen uns Breaking News und sofortige Kommentare und Metaanalysen rund um die Uhr um die Ohren gehauen werden, bietet ein solcher Film eine willkommene Verschnaufpause. «In the Absence» zeigt exemplarisch, wie man Ordnung ins Informationschaos bringen kann.

Warten auf die Kameras

Die Fakten sind erschütternd. Die Behörden erkannten den Ernst der Lage nicht, und die Präsidentin kam erst sieben Stunden nach Beginn der Katastrophe aus ihrem Schlafzimmer, während ihr Büro den RetterInnen befahl, auf ein Kamerateam zu warten. Als nur noch die Spitze des Bugs aus dem Wasser ragte, sagte ein Funker, es sei schade, dass niemand die Rettung gefilmt habe, sonst wären sie alle Helden. Dabei hatte der Kapitän das Schiff bereits verlassen, als über die Hälfte der PassagierInnen noch unter Deck waren – sie ertranken alle, weil man sie angewiesen hatte, ruhig zu bleiben und zu warten. Videos eines geborgenen Handys zeigen, wie die SchülerInnen scherzten, in Filmen stürben doch alle, die den Behörden glaubten.

Bilder, die für sich sprechen

«In the Absence» ist ein erster internationaler Erfolg der Produktionsfirma Field of Vision, eines Ablegers von First Look Media, jenem Medienkonzern, der auch Glenn Greenwalds Website «The Intercept» betreibt. Mitbegründet wurde Field of Vision von Laura Poitras, der Regisseurin von «Citizenfour» über Edward Snowden, und zu den Markenzeichen gehört eine Onlineplattform für WhistleblowerInnen, auf der diese anonym Videos oder Fotos leaken können. So versteht sich Field of Vision explizit als journalistische Organisation, mit einem starken Fokus auf visuellem Material. «Bilder können das Bewusstsein aufrütteln», fasste Poitras die Mission der Produktionsfirma in einem Interview zusammen. Das habe man sehen können, wenn irgendwo PolizistInnen unbewaffnete ZivilistInnen erschossen hätten, oder auch bei den Folterfotos aus dem US-Gefangenenlager Abu Ghraib im Irak: «Ohne diese visuellen Dokumente würden wir heute nicht über diese Machtmissbräuche debattieren.»

Die Bilder sollen für sich sprechen: Bei «In the Absence» zeigt sich diese Herangehensweise im Umgang des Films mit Archivmaterial und den Videos aus den geborgenen Handys der ertrunkenen SchülerInnen. Den Filmen von Field of Vision ist gemein, dass sie fast ohne Kommentar auskommen, die Bilder werden nur mit Interviews mit ZeugInnen oder Betroffenen kombiniert. Im endlosen Strom der Nachrichtenbilder ist es schwer geworden, einen Überblick zu behalten; hier will Field of Vision mit klaren, präzisen Filmen Abhilfe schaffen. Und diese sollen nicht nur auf Festivals laufen, sondern breit gestreut werden. Alle Filme sind deshalb frei zugänglich auf der Website – auch «In the Absence».

firstlook.media