Erfreulich: Solidarität und Selbstschutz
Wenn das öffentliche Leben in der bürgerlichen Schweiz heruntergefahren wird: Gewinnt dann der Egoismus oder die Solidarität? Als letzte Woche immer deutlicher wurde, dass der Lockdown unmittelbar bevorstand, leerten sich jedenfalls nicht nur die Regale in den Supermärkten, sondern entstanden auch unzählige kleine und grössere nachbarschaftliche Solidaritätsinitiativen. Insbesondere auf Facebook wurde rege Unterstützung angeboten: den Angehörigen der Risikogruppen, die ihr Zuhause nicht verlassen sollen, beim Einkaufen und Altglasentsorgen. Und Eltern, die kein Homeoffice machen können, bei der Betreuung ihrer Kinder. Nachbarschaftliche Schwarmintelligenz als Antwort auf den öffentlichen Stillstand.
Am Samstag dann ging die Website hilf-jetzt.ch online, die zum Ziel hat, solche Angebote noch niederschwelliger zu organisieren: In Dörfern, Quartieren und Stadtteilen sollen sich die Menschen etwa in Whatsapp- oder Telegram-Chats ganz unkompliziert austauschen. Nach vier Tagen sind bereits weit über 500 Einträge aus der ganzen Schweiz zu finden: Links zu Facebook- und Nachrichtenchats, aber auch zu Hilfsorganisationen und Lokalparteien.
Gewinnt also die Solidarität? Ein kurzer, nichtrepräsentativer Streifzug durch zufällig ausgewählte Chats zeigt: Im Moment bildet sich dort vor allem jene Schweiz ab, die wir bereits kannten. In manchen Gruppen ist es gespenstisch still, in anderen werden Flachwitze und Corona-Memes ausgetauscht. Und in einem verstehen sich manche der achtzig Mitglieder offensichtlich als verlängerter Arm des Bundesrats. Das sei «ein ganz dummes Angebot!!!», bekommt eine Coiffeuse zu hören, die Gratishaarschnitte anbietet, «du gefährdest dich und vor allem andere!!!». Es folgt eine giftige Debatte über Social Distancing, in der die Grenze zwischen Solidarität und manischem Selbstschutz fliessend scheint, bis jemand einwirft: «Könnten wir in dieser herausfordernden Zeit versuchen, nicht jede Gruppe zu einem Streitplatz verkommen zu lassen?» Es bleibt spannend.