Gesundheitspolitik: Geplante Unterversorgung

Nr. 13 –

Die Schweiz hat in den letzten Jahren Dutzende Spitäler geschlossen und Tausende Betten abgebaut. In der Coronakrise rächt sich das. Kommt es jetzt zum Kurswechsel?

Zu viel Chirurgie, zu wenig Epidemiologie: Das Personal (hier im Luganeser Spital Moncucco) kann jetzt die Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen ausbaden. Foto: Alessandro Crinari, Keystone

Daniel Koch muss in diesen Wochen oft dieselben Fragen beantworten. Seine Antworten fallen dabei nicht immer gleich präzise aus: Ja, die Kapazitäten in den Spitälern reichten noch aus. Ja, es gebe noch Schutzmaterial. Nein, er könne nicht sagen, wie viele Intensivbetten es gebe und wie deren Belegung sei.

Zur verbliebenen freien Kapazität kann Koch, oberster Seuchenbekämpfer im Bundesamt für Gesundheit, immerhin eine ungefähre Angabe machen. Er geht aktuell von rund 1200 Intensivbetten aus, aber man befinde sich in einem dynamischen Prozess, laufend würden neue Plätze geschaffen. Unklar bleibt weiterhin, wie dick oder dünn die Personaldecke ist, wie viele Pflegende und ÄrztInnen es zusätzlich braucht und woher diese kommen sollen.

Was ebenfalls unausgesprochen bleibt: dass dieser Kraftakt deshalb nötig ist, weil die Schweiz in den letzten Jahren viele Spitäler und Betten abgebaut hat. Die Coronapandemie erfasst das Land auf halbem Weg in einem gewaltigen Rationalisierungsprozess. Alleine in der Grundversorgung verschwanden in den letzten zwanzig Jahren zwei von drei Spitälern. Betroffen waren vor allem kleinere Regionaleinrichtungen. Auch die Zahl der Betten hat sich in dieser Zeit deutlich verkleinert.

Und geht es nach so mancher Entscheidungsträgerin, soll der Abbau noch eine Weile weitergehen. Im Januar forderte etwa Annamaria Müller, Verwaltungsratspräsidentin des Freiburger Kantonsspitals, im «Blick», jedes dritte Spital in der Schweiz stillzulegen. Müller hatte sich zuvor im Kanton Bern den unrühmlichen Titel «Spitalmörderin» eingehandelt, weil sie drei Schliessungen durchsetzte.

Wie schnell eine auf Kosteneffizienz getrimmte Gesundheitsversorgung in der Coronakrise an den Anschlag gerät, ist überall auf der Welt zu beobachten. Nicht nur im schwer getroffenen Italien, wo auf Druck der Europäischen Union massive Einsparungen durchgepeitscht worden waren. In Grossbritannien fehlen derweil Tausende Beatmungsgeräte, weshalb jetzt der Staubsaugerhersteller Dyson einspringt und seine Fertigung hastig umstellt.

Auch in Skandinavien, wohin GesundheitspolitikerInnen gerne blicken, weil dort die stationäre Versorgung auf das Minimum heruntergefahren wurde, geraten die Systeme an ihre Belastungsgrenze. In Schweden etwa schlugen Ärzte bereits bei tausend bestätigten Infizierten Alarm, sie hätten Mühe, Behandlungsplätze zu finden. Weil das Land nicht nur zu wenig Spitäler hat, sondern auch auf die Idee der «kontrollierten Durchseuchung» setzt, zeichnet sich eine Katastrophe ab.

Finanzierungsmodell als Problem

Willy Oggier ist ein einflussreicher Mann im Schweizer Gesundheitswesen. Er ist Präsident des Verbands Swiss Reha und er berät Spitäler und Kantone im laufenden Umbruch. Für Gesundheitsökonomen wie Oggier ist die andauernde Krise eine aufschlussreiche Zeit. Er sagt: «Wir können unsere ganze Strategie nicht nur an einem Ereignis ausrichten, das alle zehn Jahre auftritt.» Er sagt aber auch, die Coronapandemie lege eine ganze Reihe an Fehlentwicklungen im Schweizer Gesundheitswesen offen.

Eine davon: «Die Spitäler setzen viel zu fest auf die Chirurgie, wichtige Felder wie die Epidemiologie wurden sträflich vernachlässigt.» Der Grund dafür sei im Finanzierungsmodell zu finden. Komplizierte Eingriffe sind lukrativ, gemeinnützige Leistungen bringen ungedeckte Kosten. Es fehle in der Schweiz der Fokus auf Public Health, also die allgemeine Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Jedes Spital und jeder Kanton schaue vor allem für sich und dafür, dass die Erträge stimmen – «so können wir die Probleme der Zukunft nicht antizipieren».

Willy Oggier sagt, er sei bestürzt darüber, dass die Schweiz mit dem teuersten Gesundheitssystem in Europa nicht auf die Coronapandemie vorbereitet sei: «Wir wurden zigmal auf neue Infektionsgefahren aufmerksam gemacht, trotzdem wurde viel zu wenig in die Vorsorge investiert.»

Genau diesen Befund bestätigt auch Thomas Zeltner, langjähriger Direktor des Bundesamts für Gesundheit. In einem Gutachten für das Verteidigungsdepartement, das Ende 2018 entstand, aber erst kürzlich veröffentlicht wurde, warnt Zeltner, in der Schweiz würden über 4000 Betten fehlen, um eine Epidemie zu bewältigen. Er befürchtet eine weitere Verknappung der Ressourcen: In den milliardenschweren Neubauprojekten der Schweizer Spitäler seien keine Reservekapazitäten eingeplant.

Da mutet es wie ein Glücksfall an, dass diverse Abbauprojekte noch nicht vollzogen sind. Thurgau reaktiviert einen Spitalblock mit 200 Betten, der für den Abriss vorgesehen war. Zürich nimmt eine alte Intensivstation wieder in Betrieb. Und das Baselbiet nutzt das zum Teilabriss bestimmte Bruderholzspital als reine Coronastation. Plötzlich werden jene Kapazitäten wieder vital, die man noch vor kurzem als überflüssige Kostentreiber betrachtete.

Berater Oggier vermutet deshalb zumindest kurzfristig einen Abbaustopp. Doch ist die Epidemie erst bewältigt, könnte sie auch rasch wieder aus dem Bewusstsein verschwinden. Oggiers Fachkollege, der Gesundheitsökonom Simon Wieser von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur, glaubt deshalb nicht an einen Kurswechsel. Er hofft auch nicht darauf: «Es gibt Überkapazitäten, und es wird zu viel behandelt.» Die Erfahrung zeige, dass jedes leere Bett auch gefüllt werde.

Wieser warnt davor, nach der Krise nur eine Sichtweise einzunehmen. Es würden weiterhin Spitäler geschlossen werden müssen, «sonst kriegen wir die hohen Krankenkassenprämien nicht in den Griff und können die Behandlungsqualität nicht steigern».

Mehr Personal selber ausbilden

Auch Ökonomin Mascha Madörin zweifelt an einem Lerneffekt, sie allerdings bedauert das. Bereits bei der Sarsepidemie im Jahr 2003 kursierte die Idee der Triage in Basel, für den Fall, dass die Zahl der Kranken explodiert. Die Knappheit der Ressourcen zwang die Behörden schon damals, hochproblematische Handlungsprinzipien zu definieren. Madörin fragt: «Warum stehen wir heute wieder am genau gleichen Punkt?»

Für Madörin liegt die Ursache für diese Entwicklung in «spitalpolitisch produzierten Engpässen». Sie könnten wesentlich kleiner sein. Seit Jahren spreche man davon, dass das Gesundheitswesen zu teuer sei. Auch SP-Gesundheitsminister Alain Berset ist bisher von dieser Politik der verschlankten Produktion ausgegangen, davon, Reserven und insbesondere Zeitaufwand in der Pflege und der medizinischen Behandlung abzubauen, kurzum Spitäler wie gewöhnliche Unternehmen zu behandeln. Die Austeritätspolitik führe dazu, dass die Spielräume zu klein werden. Madörin fordert einen «Notstopp für alle Abbauvorhaben». Und einen Perspektivenwechsel: «Bis jetzt liegt der Fokus in unserer Gesundheitspolitik immer auf der Frage, wie viel etwas kostet und ob sich das finanzieren lässt.» Die Finanzierungsfrage sei aber die letzte, die gestellt werden müsse. «Bevor wir übers Geld reden, müssen wir definieren, was für ein Gesundheitssystem wir wollen.»

Man dürfe nicht nur über Spitäler und genügend freie Betten debattieren – sondern zuvorderst über das Personal. Während sich Vorräte auffüllen und Intensivbetten kurzfristig aufstocken liessen, könne man Pflegende und ÄrztInnen nicht einfach im Krisenfall dazukaufen. «Heute rächt sich, dass wir die Ausbildung von genügend Gesundheitspersonal vernachlässigt haben», sagt Madörin.

Der Skillmix bei den PflegerInnen in den Spitälern habe sich in den letzten Jahren verschlechtert, aber gerade für die Betreuung in den Intensivstationen brauche es hohe Qualifikationen. «Deshalb kann man auch nicht die Armee dafür einsetzen», so Madörin. Sie verlangt darum eine Ausbildungsoffensive und Lohnzulagen für alle während der Überlastung der Spitäler durch die Coronakrise im Einsatz Stehenden.

In diesem Punkt sind sich die drei ÖkonomInnen ausnahmsweise einig. Auch Oggier und Wieser fordern, die Schweiz müsse wieder mehr Gesundheitspersonal selber ausbilden. Ansonsten bleiben die Differenzen gross. Zumindest wird aber wieder um die Zukunft des Schweizer Gesundheitswesens gestritten. Die letzten Jahre ging es nur in eine Richtung: schlanker, unternehmerischer – und krisenanfällig.

Pflegeinitiative : Neuer Schub im Parlament (wenn es wieder tagt)

Bei der Bewältigung des Coronavirus fehlt es im Schweizer Gesundheitssystem weniger an der Infrastruktur als vor allem an Personal mit der nötigen Ausbildung. «Der Fachkräftemangel in der Pflege ist nicht erst seit dieser Krise Realität. Jetzt zeigt er sich einfach in aller Deutlichkeit», sagt Heidi Hanselmann, die Präsidentin der Konferenz der kantonalen GesundheitsdirektorInnen. Als Ursachen nennt die SP-Politikerin die demografische Entwicklung, die immer mehr PflegerInnen erfordert, sowie die steigende Belastung bei der Arbeit: «Der höhere administrative Aufwand durch die Einführung der Fallpauschalen hat den Beruf sicher nicht attraktiver gemacht.»

Abhilfe schaffen will die Pflegeinitiative, die vom Berufsverband der Pflegefachfrauen und -männer lanciert wurde. Sie fordert eine Garantie, dass genügend Pflegepersonal ausgebildet wird, und mehr Unterstützung, damit es länger im Beruf bleibt. Der Nationalrat hat Ende letzten Jahres einen indirekten Gegenvorschlag zur Initiative beschlossen. Dieser schreibt fest, dass der Bund und die Kantone über eine Milliarde Franken in die Ausbildung von Pflegefachpersonen investieren sollen.

Den Gegenvorschlag initiiert hat CVP-Nationalrätin Ruth Humbel. «Damit können wir eine eigentliche Pflegeoffensive starten», ist die Präsidentin der Gesundheitskommission überzeugt. Humbel hofft zudem, dass sich auch die Spitäler und Heime für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen: mit mehr Weiterbildungen oder Kinderbetreuung für das Personal.

Barbara Gysi, Mitglied im Komitee der Pflegeinitiative, bezeichnet den indirekten Gegenvorschlag als «absolutes Minimum». Nur wenn beide Räte an der Investition von einer Milliarde festhielten, könne tatsächlich etwas gegen den Pflegenotstand getan werden. Doch es brauche noch mehr: So fordert die SP-Nationalrätin eine Quote, wie viele PflegerInnen in Relation zu den PatientInnen benötigt werden. Zudem setzt sie sich für einen Gesamtarbeitsvertrag oder gesetzliche Vorgaben für bessere Arbeitsbedingungen ein. Damit sollen die hohe Belastung durch lange Schichten gemindert und anständige Löhne garantiert werden. Gysi hofft nach den Erfahrungen bei der Bewältigung des Coronavirus auf breite Unterstützung: «Nun sollte jedem und jeder im Land klar sein, wie wichtig die Pflege ist.»

Kaspar Surber