Die verwaiste Pariser Innenstadt: Wenn zwei Millionen Menschen verschwinden

Nr. 17 –

Wo sonst TouristInnenmassen mit ihren Selfiestangen kämpfen, herrscht Leere wie an einem kalten Neujahrsmorgen. Eine Frau schleicht sich in den abgesperrten Park, um einen Baum zu umarmen. Die Polizei wirkt eher träge.

Dies sollte keine x-te Variation auf das Thema «Apocalypse Now» werden. Wörter und Wendungen wie «Geisterstadt» oder «gespenstische Leere» wollte der vorliegende Text vermeiden.

Aber dann steigt man aus der Pariser Metrostation Charles de Gaulle – Étoile ans Tageslicht. Und wähnt sich jäh in der Kulisse eines Zombiefilms. «35 Days Later» (das «confinement», die Ausgangsbeschränkung, begann hier am 17. März): ein verwaistes Monument, Napoleons Triumphbogen; ein Riesenplatz bar jeder Menschenseele; der ferne Flügelschlag unsichtbarer Tauben. Die Schreckensvision währt zehn, vielleicht fünfzehn Sekunden, dann nähert sich ein Auto von den Champs-Élysées her. Bald folgen zwei, drei weitere nach. Rückkehr ins reale Leben.

Eine Stunde Ausgang

Paris ist eine Millionenstadt. Weder Attentate noch Pandemien fegen die Strassen hier je völlig leer. Aber es ist doch so ruhig wie, sagen wir, an einem klirrend kalten 1. Januar um sechs Uhr morgens. Nur dass es ein lichter, lauer Aprilnachmittag mitten in der Woche ist. In der Avenue Kléber, den Arc de Triomphe im Rücken, hört man die Vögel zwitschern. Die beiden chinesischen Steinlöwen am Aufgang des abgedunkelten Hotels The Peninsula grinsen nach wie vor undurchdringlich vor sich hin. Aber die Kübelpflanzen zu beiden Seiten wirken mitgenommen. Hinter dem improvisierten Tresen, der den Eingang einer Crêperie versperrt, hält der Wirt angestrengt Ausschau nach nichtexistenten Gästen. Wenn alle Büros im Quartier schliessen, bringt auch das Umsatteln auf Take-away-Betrieb nichts.

Diese nordwestlichen Edelviertel, bei denen man sich schon zu normalen Zeiten fragt, wer wohl dort lebt, wirken in der Coronakrise noch unsympathischer. Vor einem Supermarkt stiert ein Clochard, das bärtige Gesicht bläulich aufgedunsen, einer vorbeigleitenden Limousine mit Diplomatenkennzeichen nach. Paris zählt geschätzt 3500 Obdachlose. Ohne Hilfsorganisationen, von denen viele Mitte März den Betrieb eingestellt haben, ohne PassantInnen, die ein paar Münzen zu spenden bereit wären, und ohne ihre angestammten Schlupflöcher, die mangels Wachpersonal zurzeit oft abgesperrt sind, müssen sie noch mehr darben.

Am Trocadéro haben sich die fliegenden afrikanischen Händler, die hier sonst bunte Eiffeltürmchen an TouristInnen verhökern, in Luft aufgelöst. Auf der riesigen Esplanade, die auf das Original der «Eisernen Dame» hinausblickt, geniesst man den Panoramablick in erhabener Exklusivität. Drei Polizisten langweilen sich rechts an der Treppe. Ob man in den Garten hinunter dürfe? «Ja, wenn Sie Ihre Bescheinigung haben.» Diese «attestation de déplacement dérogatoire» muss man – auf Papier oder auf dem Handy – jedes Mal ausfüllen, wenn man das Haus verlässt. Maximal eine Stunde Ausgang pro Tag ist erlaubt, und das in einem Umkreis von einem Kilometer ums Domizil (es sei denn, man geht zum Arzt, besucht kranke Verwandte oder muss beruflich irgendwohin).

Zu sagen, die PolizistInnen legten bei der Suche nach Zuwiderhandelnden übertriebenen Diensteifer an den Tag, wäre indes Rufmord. Die Kontrolle am Trocadéro war für uns die erste und einzige seit Mitte März – und fand wohl auch nur deshalb statt, weil wir von selbst auf die Ordnungshüter zugegangen waren. Im Gespräch verraten die drei, dass es erst ihre vierte Kontrolle des Tages sei – um 15 Uhr, wohlgemerkt. Jeden Tag würden sie in ein anderes Viertel abkommandiert. Ob die breite Querstrasse des Champ de Mars, der grossen Grünanlage südlich des Eiffelturms, die wie alle Pariser Parks geschlossen ist, passierbar ist, wissen sie nicht. «Wir sind eh immer als Letzte informiert», mault einer von ihnen.

Während des fünfstündigen Erkundungsgangs werden wir regelmässig Ordnungskräften begegnen – zu Fuss, im Auto, beritten, auf Rollschuhen, in Schnellbooten. Vor dem Invalidendom rauschen sogar plötzlich vierzehn weisse Polizeitransporter mit Blaulicht ums Eck. Aber sind mehr PolizistInnen unterwegs als sonst? Wenn auf einen Schlag zwei Millionen Menschen von der Strasse verschwinden, fallen die verbliebenen UniformträgerInnen zwangsläufig stärker ins Auge. Doch im Gegensatz zu 2015 und 2016, als nach dschihadistischen Terrorattacken schwer bewaffnete Militärpatrouillen in der ganzen Stadt (und sogar bis in die Metrowaggons hinein) eine bleierne Stimmung verbreiteten, sieht man zurzeit in den verwaisten TouristInnenzonen kaum Soldaten ihre Runden drehen.

Wie Wüstentiere an einer Wasserstelle

Auch die zwanzig unter grossem Mediengetöse lancierten Drohnen, deren Lautsprecheransagen widerrechtliche SpaziergängerInnen aus innerstädtischen Sperrgebieten vertreiben sollen, sucht man am azurblauen Frühlingshimmel über dem Champ de Mars vergebens. Eine ältere Frau kann unbehelligt unter den Absperrbändern mit der Aufschrift «Police Nationale» hindurch in den Park schlüpfen und dort einen Baum umarmen. Aus sicherer Distanz gefragt, was sie da tue, ruft sie: «Energie tanken!»

Ein wenig zu leben beginnt die städtische Einöde dort, wo AnwohnerInnen zusammenkommen wie Wüstentiere an einer Wasserstelle – im Umkreis von Einkaufsmöglichkeiten. Konkret meint das: Apotheken, Supermärkte und Lebensmittelgeschäfte, sind doch so ziemlich alle anderen Läden geschlossen (die schmerzlich vermissten Coiffeure inbegriffen). Selbst im Faubourg Saint-Germain, einst der Wohnort von Marcel Prousts Herzögen und Prinzessinnen, heute ein gediegenes Ghetto für diskrete Diplomaten und flüchtige Financiers, bilden sich vor den Boutiquen der Rue de Grenelle kleine Warteschlangen. Beim Metzger Le Bourdonnec, dessen exquisite Auslage etwaige Anfälle von Weltuntergangsstimmung augenblicklich kuriert, berichtet ein Verkäufer beglückt, dieser Tage laufe das Geschäft wieder halbwegs ordentlich. «Aber die drei ersten Wochen war es katastrophal. Ein Gutteil unserer Kunden hat Ferienhäuser. Es war, als seien alle aufs Land geflüchtet!»

Die Statistiken sind in der Tat frappierend: JedeR vierte permanente oder vorübergehende BewohnerIn hat die Hauptstadt verlassen, innert weniger Tage packten 600 000 Pariser und Besucherinnen die Koffer. Vor diesem Hintergrund gewinnen die Plakate für eine – längst annullierte – historische Ausstellung, die noch überall in der Stadt hängen, eine beklemmende Aktualität: «1940, der Exodus der Pariser».

Vor allem die zentralen Luxus- und Museumsviertel sind wie leer gefegt. Den Pont Alexandre III und die Place de la Concorde hat man ganz für sich allein. Vor dem Grand Palais und dem Louvre reckt sich keine einzige Selfiestange mehr in die Luft. Auf das Steinpflaster der Champs-Elysées oder der Rue Royale könnte man sich fast hinlegen, so spärlich ist der Autoverkehr. Die Rue Saint-Honoré wirkt verwaist: Frau Lanvin und Herr Saint Laurent haben den Rollladen heruntergelassen, wie an der Place Vendôme ums Eck Ritz, Cartier und Co. Stadtweit sind 72 Prozent der Geschäfte geschlossen; im Dreieck Concorde–Opéra–Louvre sind es gefühlte 99 Prozent.

Mit Holzplanken vernagelt

Ganz gleich verhält es sich im Viertel Saint-Germain-des-Prés. Hinter den Glasfronten des einstigen Intellektuellentreffpunkts Café de Flore stapeln sich die Flechtrohrstühle zu einer Mauer der Einsamkeit. In den Boutiquehotels der Rues des Beaux-Arts, Christine oder Jacob versinken keine TouristInnen mehr im Angedenken an Oscar Wilde oder die Existenzialisten in Eiderdaunendecken. Neun von zehn Herbergen der meistbesuchten Stadt der Welt affichieren die Geschäftslosung des Tages (Monats? Jahres?): «Fermé jusqu’à nouvel ordre» – bis auf Weiteres geschlossen. Einige haben sogar schon, fatalistisch vorausblickend, Fenster und Türen mit Holzplanken vernagelt.

Und noch etwas fehlt, wie man auf dem Rückweg über das trubelfreie Quartier Latin, das falafelfreie Marais und die abgasfreie Place de la Bastille bemerkt: Graffiti zum Thema Coronakrise. Die sonst so reaktionsschnellen Strassenkritzler und -künstlerinnen trauen sich dieser Tage, wies scheint, nicht aus dem Bau. Erst kurz vor dem eigenen Nest entdeckt man in einer Nachbarstrasse auf einer Hauswand eine fehlerstrotzende Unheilsverkündigung: «La guerre civil est eminante» – der Bürgerkrieg steht vor der Tür. Doch dem entgegnet auf einer anderen Wand eine andere Schrift: «L’imprévu, c’est la vie» – das Unvorhersehbare ist das Leben.