Pop: Blaue Stunde, rosa Himmel
Ein Sarg als Gesangskabine? Das tönt makabrer, als es klingt: Das neue Album von Emily Cross und ihrer Band Loma leuchtet in allen Farben der Dämmerung.
Es ist nicht zu überhören, da rottet sich gerade eine grosse Bassklarinettenweltverschwörung zusammen. Plötzlich taucht das Instrument (oder auch seine tiefere Schwester, die Kontrabassklarinette) an allen Ecken und Enden auf: auf grosser Bühne beim einzigen Schweizer Konzert von Beth Gibbons, auf ganz kleiner Bühne im neuen Musikvideo von Boni Koller mit der Band Ströiner oder auch bei den Konzerten von Jonas Albrecht mit seinem «Schrei nicht so Orkestra». Und weiter gehts jetzt auf dem neuen Album der Band Loma, geografisch zu Hause irgendwo zwischen Texas und dem Süden Englands.
Hier sind es nur ein paar sparsam gesetzte Töne im grandios verhuschten Song «Pink Sky». Wie geduckt geht der Bass voran, diskret begleitet von minimalem Schlagzeug, dazwischen lugt immer wieder mal etwas Geräuschhaftes aus dem Hallraum hervor – und eben auch mal eine Bassklarinette, ganz kurz nur und gleich wieder weg, wie ein Schatten. So schleicht sich dieser Song an, sachte wie ein Geistertanz, der sich in die falsche Jahreszeit verirrt hat. Der rosa Himmel über London, den Emily Cross hier besingt, scheint sich ja auch in der Farbe geirrt zu haben. Und sind Jahreszeiten nicht sowieso irgendwie obsolet geworden? «This life isn’t open-ended», heisst es am Ende von «Pink Sky», aber ein Echo meldet gleich seine Zweifel an, oder vielleicht ist es auch Hoffnung: «Is it, is it?»
Am anderen Ende des Lebens
Dass dieses Leben nach hinten nicht offen ist: Die Sängerin von Loma weiss, wovon sie da singt. Emily Cross hat nach einem ersten Album unter dem Namen Cross Record (schon dort auch mit Bassklarinette) eine Ausbildung zur Doula gemacht – aber nicht für Geburten, sondern am anderen Ende des Lebens, für Sterbebegleitung. Auch Bandkollege Jonathan Meiburg ist neben der Musik noch auf anderen beruflichen Pfaden unterwegs. Bekannt vor allem als Kopf der Band Shearwater, mit der er seit 2001 zehn Studioalben herausgebracht hat, landete Meiburg vor drei Jahren mit seinem gefeierten Debüt «A Most Remarkable Creature» als Nature Writer in den Sachbuchspalten. Darin berichtet er von seinen Forschungsreisen auf den Spuren der Falklandkarakaras, einer seltenen Art von Geierfalken, die mit ihrer aussergewöhnlichen Neugier für das, was die Menschen so treiben, einst schon Charles Darwin faszinierten. (Für sein nächstes Buch studiert Meiburg derzeit die Antarktis zwischen ihren urzeitlichen Wäldern und ihrer ungewissen Zukunft.)
Ein Naturkundler und eine Sterbebegleiterin – fehlt eigentlich nur noch ein Konditor am Bass oder eine Schlagzeugerin, die hauptberuflich Trockensteinmauern baut. Dan Duszynski aber, der Dritte im Bunde bei Loma: Musiker und Produzent mit eigenem Studio; über berufliche Wirkungsfelder abseits davon ist nichts bekannt. Duszynski war einst eine Hälfte von Cross Records und mit Emily Cross verheiratet. Meiburg lernten die beiden 2016 kennen, als sie als Vorband von Shearwater mit auf Tour waren, worauf sie zu dritt «heimlich eine neue Band gründeten», wie es im offiziellen Profil von Loma heisst. Die Aufnahmen fürs erste Album von 2018 endeten für Cross und Duszynski mit der Scheidung, die neue Band aber hat die Trennung überlebt.
Ins Holz gesungen
Nach dem teils etwas angestrengten Kunstpop des zweiten Albums, «Don’t Shy Away» (2020), hatten sie einander zwischenzeitlich fast wieder verloren, verstreut zwischen Texas, England, Deutschland. Zwei Versuche für neue Aufnahmen verliefen im Sand oder mussten wegen Krankheit abgebrochen werden. Schliesslich bestellte Emily Cross ihre beiden Kollegen zu sich nach Dorset an der englischen Südküste. Dort, in der ehemaligen Werkstatt eines Sargmachers, wo sie sonst als Doula arbeitet, richteten die drei ein behelfsmässiges Studio ein.
Ob sie dabei wirklich auch einen Sarg zur Gesangskabine umfunktionierten, wie es der Promotext kolportiert? Die Fachfrau für Sterbebegleitung hätte dann also quasi ins Holz der eigenen Endlichkeit hineingesungen. Auch sonst sind das Lieder, die aus dem Dämmerlicht kommen, raumgreifend, verwunschen. Viel gedämpftes Klavier, flimmernde Konturen um die schattenhelle Stimme von Emily Cross, manchmal ein anschwellendes Rauschen: Streicher oder die Brandung oder irgendetwas dazwischen.
Das rudimentäre Setting der Aufnahmen hört man diesen Songs kaum je an – und auch nicht die künstliche Intelligenz, die an den Texten teils mitgeschrieben hat. Aber es war nicht irgendein dahergelaufener Algorithmus aus dem Silicon Valley, sondern einer mit klingendem Namen: Die New Yorker Popavantgardistin Laurie Anderson stellte Loma ein Programm zur Verfügung, das sie mit ihren eigenen Songtexten trainiert hatte. Auch der jenseitig schillernde Albumtitel, «How Will I Live Without a Body?», ist angeblich aus Laurie Andersons hauseigenem Laurie-Anderson-Textgenerator hervorgegangen. Passt zu einem Album, das unmerklich die Grenzen verwischt: vordergründig die ländliche Atmosphäre mit notdürftig improvisiertem Tonstudio, aber zwischen den Spuren spukt die digitale Avantgarde.