Grippepandemie 1918: «Das Vaterland ist in Gefahr»

Nr. 18 –

Obwohl die Behörden die Grippewelle im Sommer 1918 für relativ harmlos hielten, erliess der Bundesrat drakonische Massnahmen. Wollte man damit vor allem die Arbeiterbewegung in den Griff kriegen?

Die Influenza bekämpfen – und die Arbeiterklasse: Militäreinsatz beim Generalstreik Mitte November 1918 in Zürich. FOTO: KEYSTONE

Schulen schliessen, Versammlungen verbieten, Notspitäler errichten: Zu solchen Massnahmen griffen Schweizer Behörden bereits vor hundert Jahren, als von 1918 bis 1920 die schlimmste Grippepandemie der Geschichte wütete. Bloss dienten sie damals noch anderen, politischen Zwecken. Mit Blick auf die innenpolitische Situation von 1918 – Stichwort Landesstreik – stellt sich sogar die Frage, ob die Behörden damals primär die Spanische Grippe oder die Arbeiterbewegung bekämpfen wollten.

Regieren im Ausnahmerecht

1918 konnte sich der Bund auf zwei unterschiedliche Rechtsrahmen stützen, um Massnahmen zur Bekämpfung der Grippepandemie zu erlassen. Einerseits gab es das Epidemiengesetz aus dem Jahr 1886, für dessen Umsetzung aber nur ein paar wenige Beamte des Eidgenössischen Gesundheitsamts zur Verfügung standen und das die Grippe nicht einmal explizit miteinbezog. Andererseits führte der Bundesrat das Land seit Kriegsausbruch 1914 unter dem Vollmachtenregime, was ihm erlaubte, seinen Einfluss auf neue Bereiche auszudehnen – ein Ausnahmerecht, von dem er ausgiebig Gebrauch machte.

Unterstützt von einem einflussreichen und autoritären Generalstab, versuchte die Regierung mit allen Mitteln, eine zunehmend organisierte Arbeiterklasse zu disziplinieren, die aufgrund der sich verschlechternden Lebensbedingungen immer fordernder auftrat. Die Konfrontation zwischen der Arbeiterbewegung und den Behörden drohte im Sommer 1918 zu eskalieren. Auf Druck der Armee erliess der Bundesrat am 12. Juli ein erstes Versammlungsverbot. Die Bewegung reagierte mit der Ausrufung eines Arbeiterkongresses, der Ende Juli stattfinden und zum ersten Mal VertreterInnen von Gewerkschaften und der Sozialistischen Partei zusammenbringen sollte. Sie drohte offen mit einem Generalstreik.

In der Zwischenzeit vervielfachte sich in der Schweiz die Zahl der Grippeopfer. Die schnell wachsende Anzahl Toter in der Armee dominierte zunehmend die Tagesordnung. Der Verlauf der Grippe in der Zivilbevölkerung schien dagegen zweitrangig – weder in der Presse noch in den Protokollen der kantonalen Behörden fand sie grosse Beachtung. Vor diesem Hintergrund kann die Tragweite des allerersten Bundesratsbeschlusses zur «Bekämpfung der Influenza» vom 18. Juli 1918 nur verwundern: Die Regierung verbot alle Veranstaltungen, «welche zur Ansammlung zahlreicher Personen am gleichen Ort oder im gleichen Raum führen können». Der radikale Erlass war zeitlich und inhaltlich extrem nah am gegen die Arbeiterschaft gerichteten Versammlungsverbot. Stand tatsächlich die Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung im Zentrum?

Der Bund dürfte kaum Informationen über den landesweiten Verlauf der Krankheit besessen haben. Denn das bei seiner Einführung stark umkämpfte Epidemiengesetz brachte mit dem Eidgenössischen Gesundheitsamt nur eine schwache, dezentralisierte Institution hervor, die von den Kantonsregierungen abhängig war. Ausserdem beschränkte das Epidemiengesetz die Zuständigkeit des Bundes im Bereich der öffentlichen Gesundheit auf eine kleine Gruppe von «gemeingefährlichen» Krankheiten wie Cholera oder Pest – die Grippe gehörte nicht dazu. Der Bund besass also eigentlich gar nicht das Recht, einzugreifen, und Ärzte und lokale Gesundheitsbehörden waren auch nicht verpflichtet, ihn über den Stand der Grippeepidemie zu informieren.

Befund: «ziemlich gutartig»

Offenbar hielt die Landesregierung im Sommer 1918 die Grippe für relativ harmlos. Anfang Juli betonte das Eidgenössische Gesundheitsamt in einem Rundschreiben an die Kantonsregierungen, dass die Grippe «einen ziemlich gutartigen Charakter» zeige: «Besonders scheinen uns behördliche Massnahmen nicht angebracht.» Zeitgleich mit dem Versammlungsverbot des Bundesrats veröffentlichte das Amt ein weiteres Dokument zur Grippe. Kernbotschaft: «Nach den bisherigen Erfahrungen verlaufen die Fälle gewöhnlich leicht und gehen bei zweckmässigem Verhalten nach einigen Tagen in Heilung über.»

Wirft man heute einen Blick auf die Mortalitätsstatistiken, überrascht dieser leichtfertige Umgang mit der Grippe. Die wohl wahrscheinlichste Erklärung dafür: Man befand, die Grippe passe nicht in das Krankheitsparadigma der Jahrhundertwende mit seinem Fokus auf eine Übertragung durch Keime. Bereits die Grippepandemie von 1889/90 hatte in der Schweiz geschätzt 3000 Todesopfer gefordert. Für Friedrich Schmid, den Sanitätsreferenten des Bundes, war damals schon klar, dass sich die Grippe «unzweifelhaft durch Kontagion» überträgt. Er zeigte die Übertragung von Mensch zu Mensch mittels Statistiken. Doch im Labor liess sich das nicht nachweisen. Das Virus ist zu klein für ein Mikroskop – erst 1933 wurde es als Infektionsursache identifiziert.

Im Sommer 1918 war also nicht mit Sicherheit klar, warum die Menschen erkrankten und was man dagegen tun konnte. Husten, Fieber, Gliederschmerzen, Kopfschmerzen – reichten diese Symptome, um ein tiefes Eingreifen des Staats in das private Leben seiner Subjekte zu rechtfertigen? Kaum ein Staat setzte damals zur Bekämpfung der Grippe so weitreichende Massnahmen durch wie die Schweiz. Wie sehr sie Teil der Disziplinierungspolitik der Bundesbehörden gegen opponierende ArbeiterInnen waren, zeigte sich während der zweiten Welle der Epidemie zwischen Oktober und Dezember, als auch die sozialen Spannungen mit dem Generalstreik vom 12. bis 14. November ihren Höhepunkt erreichten.

Dass für den Kampf gegen die Arbeiterschaft weitgehend Massnahmen zur Grippebekämpfung instrumentalisiert wurden, zeigt sich beispielhaft im Kanton Aargau. Dort war die Arbeiterschaft besonders gut organisiert; entsprechend erfolgreich verlief der Generalstreik in Aarau und Baden. Im Aargau begann just zu dieser Zeit auch die umfassendste Mobilisierung bürgerlicher Kräfte gegen die Arbeiterbewegung.

Angst vor dem Umsturz

Treibende Kraft war Eugen Bircher, Arzt, Angehöriger des Militärstabs und Mitglied der dreiköpfigen aargauischen Epidemienkommission. Um die Bildung von Bürgerwehren zu ermöglichen, wandte er sich am 12. November an den Regierungsrat: «Heute geht es um mehr als die Grippe. Das Vaterland ist in Gefahr. Das Volk muss nun mit Recht gegen den Umsturz Partei nehmen. Ich empfehle die Versammlungsverbote in nicht mehr stark verseuchten Gemeinden aufzuheben.» Am 24. November versammelten sich rund 12 000 Personen im römischen Amphitheater von Windisch – ein Gründungsmoment des späteren rechtsradikalen Schweizerischen Vaterländischen Verbands.

Gleichzeitig hielten die aargauischen Behörden die gesundheitliche Situation immer noch für zu gefährlich, um etwa «Tanzbelustigungen» zuzulassen oder die Kinos wieder zu öffnen. Verboten blieben auch Aufmärsche der Arbeiterorganisationen. Eine Beschwerde der Gewerkschaften wiegelte der Regierungsrat im März 1920 mit den Worten ab, er habe «nur soweit in den Gang des öffentlichen Wirtschaftslebens eingegriffen, als es uns im Interesse der Bekämpfung der Seuche unbedingt notwendig schien, ohne Rücksicht selbstverständlich auf einzelne politische oder wirtschaftliche Organisationen».

Séveric Yersin arbeitet an einer Dissertation zur Geschichte des Schweizer Gesundheitswesens und der Epidemienbekämpfung.