Spanische Grippe: Gliederschmerzen und Schüttelfrost

Nr. 44 –

1918 entstand aus einer harmlosen Grippewelle eine Pandemie mit entsetzlichen Folgen. Am Anfang der Spanischen Grippe stand eine Vogelgrippe aus den USA.

Am 19. Oktober 1918 notierte der Schriftsteller Stefan Zweig in Zürich in sein Tagebuch: «(...) in der Stadt die Grippe in entsetzlichem Masse. Eine Weltseuche, gegen die die Pest in Florenz oder ähnliche Chronikengeschichten ein Kinderspiel sind. Sie frisst täglich 20 000 bis 40 000 Menschen weg.»

Dabei hatte alles relativ harmlos begonnen. Im Frühjahr 1918 überzog eine Grippewelle Europa, Asien und die Vereinigten Staaten, die aber niemand so richtig ernst nahm. Zahlreiche Menschen erkrankten mit den üblichen Symptomen - hohes Fieber und Schüttelfrost -, aber nur wenige starben. Vielerorts nannte man die Krankheit die Spanische Grippe, weil sie zuerst in San Sebastián, einem spanischen Ferienort, grassierte und sich dann rasch in ganz Spanien ausbreitete. Heute wissen wir, dass jene Influenzapandemie, bei der vermutlich bereits der Erreger der Vogelgrippe zum hochansteckenden Virus mutierte, zuerst in den USA wütete. Schauplatz war Kansas, wo ein Landarzt im Januar und Februar 1918 die Beobachtung machte, dass die Grippe nicht wie jedes Jahr zahlreiche Opfer unter den Alten und Schwachen forderte, sondern dass auch Menschen in jungen Jahren und von kräftiger Natur daran verstarben. Von Kansas fand der Erreger offenbar rasch den Weg an die amerikanische Ostküste, wo Soldaten auf die Einschiffung nach Europa warteten.

Zu dieser Zeit war der Erste Weltkrieg in seine Endphase getreten. Die Menschen hatten andere Sorgen: Das «Dreitagefieber», wie es die amerikanischen Soldaten auf dem französischen Kriegsschauplatz getauft hatten, machte lediglich den Stabschefs zu schaffen, die vorübergehend mit ihren Planungen durcheinander kamen, da ihre Armeen wegen der hohen Krankenrate nicht voll einsatzfähig waren. So beklagte sich die deutsche Heeresleitung über die sinkende Kampfmoral der Truppen, die das «flandrische Fieber», wie es die deutschen Landser nannten, ebenfalls erwischt hatte. Dennoch brach in den Heeresleitungen keine Panik aus. Seuchen waren nun einmal die ständige Begleiterscheinung eines Krieges. General Ludendorff schreibt in seinen Kriegserinnerungen: «Die Grippe griff überall stark um sich (...). Es war für mich eine ernste Beschäftigung, jeden Morgen von den Chefs die grossen Zahlen von Grippeausfällen zu hören und ihre Klagen über die Schwäche der Truppen, falls der Engländer nun doch angriffe. Auch die Grippefälle vergingen.»

Grausamer Erstickungstod

Nicht nur Ludendorff und andere Generäle täuschten sich. Ende August 1918 folgte eine zweite Grippewelle. Sie trat in den Vereinigten Staaten erstmals in Boston auf, vermutlich eingeschleppt von einer Gruppe Matrosen, die dort Zwischenstation machte. In wenigen Tagen erreichte die Grippe Fort Devens, ein Armeecamp dreissig Meilen westlich von Boston. Dort bekamen die ratlosen Ärzte und die völlig überforderten Pflegekräfte einen ersten Vorgeschmack auf ein Horrorszenario, das sich in den darauf folgenden Wochen überall auf der Welt wiederholte. Die Krankheit begann als grippaler Infekt, doch schon bald traten weitere Symptome zu Tage. Auf den Wangen zeigten sich mahagonifarbene Flecken, die auf eine Zyanose hindeuteten. Die meisten Patienten entwickelten zusätzlich eine schwere Lungenentzündung, gegen die es damals noch kein wirksames Mittel gab. Die Kranken spuckten Blut und starben oft einen grausamen Erstickungstod. Der Anblick der sterbenden Soldaten, die alle im bes-ten Alter und vorher kerngesund gewesen waren, muss so schrecklich gewesen sein, dass der neben anderen medizinischen Koryphäen zu Hilfe gerufene Colonel Victor C. Vaughan, der Vorsitzende der Amerikanischen Ärztegesellschaft, später in seinen Memoiren festhielt: «Diese Erinnerungen sind abscheulich, am liebsten würde ich sie mir aus dem Hirn reissen, sie vernichten, aber leider steht das nicht in meiner Macht.»

Bereits die erste Grippewelle hatte auch die Zivilbevölkerung heimgesucht. Als eine der ersten deutschen Städte war Nürnberg betroffen. Dort konnte man am 29. Juni 1918 einer offiziellen Mitteilung der Gesundheitsbehörde entnehmen: «Die nach Zeitungsmeldungen vor kurzem in Spanien aufgetretene Erkrankung scheint ihren Einzug auch hier gehalten zu haben. (...) Es handelt sich allem Anschein nach um eine explosionsartig auftretende Influenza.» Nachdem die Zahl der Erkrankungen im Laufe des Sommers stark rückläufig gewesen war, glaubte man, bereits Entwarnung geben zu können. Doch schon im Herbst 1918 kam die zweite Grippewelle über die Westfront auch ins Deutsche Reich. Allein in Nürnberg erkrankten zwischen dem 12. und 18. Oktober über dreitausend Menschen an der Spanischen Grippe. Die städtischen Krankenhäuser waren überfüllt, das öffentliche Leben kam weitgehend zum Stillstand, wenngleich die Behörden alles taten, das ganze Ausmass der Seuche zu verheimlichen, um keine Panik aufkommen zu lassen. So wurden beispielsweise keine Gesundheitsstatistiken veröffentlicht. Auch andernorts kam es im Oktober 1918 zu Massenerkrankungen. Der Literaturwissenschaftler Victor Klemperer erinnert sich: «Unterwegs wurde mir sehr übel, es war nicht nur Übermüdung und seelische Depression, sondern eine richtige irgendwo aufgegabelte Grippe mit Gliederschmerzen, Schüttelfrost und Hitze. (...) Ich kaufte mir Aspirin, schleppte mich in ein schäbiges Hotel am Bahnhof, schlief von acht Uhr abends bis neun Uhr morgens. Sehr häufig habe ich am Geburtstag unerquickliche Erwägungen angestellt; aber unter meinen sechzig neunten Oktobern gehört dieser (...) zu den abscheulichsten.» Doch nicht alle kamen so glimpflich davon. In Wien starben Ende Oktober im Alter von 29 Jahren der Künstler Egon Schiele und seine Frau an der Grippe. Man schätzt, dass damals allein im Deutschen Reich fast 300 000 Menschen an der Grippe verstarben, zirka 4,5 bis 5 Promille der Bevölkerung.

Protest gegen die Grippe

Auch in der Schweiz setzte die erste Welle im Sommer 1918 ein. Sie ebbte bereits im August wieder ab. Doch das war erst der Anfang. Zwischen Oktober und Dezember 1918 forderte die Spanische Grippe allein im Kanton Solothurn 537 Todesopfer. In der Gemeinde Grenchen wurde im Schulhaus ein Notspital eingerichtet und zusätzliches Pflegepersonal eingestellt. In der Turnhalle installierte man eine Desinfektionsanlage. Dennoch waren neunzig Grippetote zu beklagen. Nach Schätzungen erkrankten sechzig bis siebzig Prozent der Bewohner des Uhrenstädtchens an der Grippe. Für die Gesamtschweiz wird die Zahl der statistisch erfassten Grippekranken mit 744 000 angegeben, davon starben fast 25 000 an der Seuche. Die Grippeepidemie verstärkte in der Schweiz auch den damaligen politischen Streit: Im November kam es zu landesweiten Protestkundgebungen und einem Landesgeneralstreik, bei denen auch die Grippe für den politischen Kampf instrumentalisiert wurde. So unternahm der Bundesrat den Versuch, den «Rädelsführern» des Streiks die Verantwortung für die grosse Zahl der an Grippe verstorbenen Soldaten zuzuschieben. Die Arbeiterorganisationen wiederum beschuldigten Regierung und Armeeführung, mit dem unverhältnismässigen Truppenaufgebot die Erkrankungsrisiken erhöht zu haben. Im Streikaufruf des Oltener Aktionskomitees vom 9. November 1918 wird dieser Zusammenhang deutlich: «In einem Augenblick, da unsere Bewegung in einem Ruhestadium sich befand, hat der Bundesrat die Arbeiterschaft mit einem Truppenaufgebot überrascht. Trotz der Grippe, die im Interesse der Volksgesundheit eine restlose Demobilisation heischte, sind Zehntausende von Schweizer Soldaten aufgeboten worden.» Angesichts der Umstände stelle ein solcher Befehl, so heisst es in dieser Proklamation weiter, «ein eigentliches Verbrechen» dar.

Es war vor allem die therapeutische Hilflosigkeit und das Versagen der Gesundheitsbehörden, das die Menschen in Panik geraten liess. Alle damals bekannten Therapien schlugen nicht an. Militärärzte impften Soldaten mit Stoffen, die sie aus den Körpersekreten Grippekranker gewonnen hatten. Zur gleichen Zeit begann die fieberhafte Suche nach dem Krankheitserreger. Zunächst vermutete man ein Bakterium als Auslöser.

Doch schon bald war den meisten Experten klar, dass es kein Bazillus sein konnte, sondern nur ein Virus, welches sich aber mit den damals vorhandenen Labormethoden nicht nachweisen liess. Erst 1933 gelang es einer englischen Forschergruppe, das Grippevirus im Tierversuch zu isolieren. Doch war man damit dem tödlichen Killervirus von 1918 noch längst nicht auf die Spur gekommen.

Jagt den Virus

Hier beginnt ein spannendes Kapitel in der Wissenschaftsgeschichte, nämlich die Jagd nach dem Killervirus von 1918, das weltweit über zwanzig Millionen Menschen den Tod gebracht hatte. Zu den eher stillen Helden dieser Entdeckungsgeschichte zählt der amerikanische Pathologe Johan Hultin. Er kam als junger Student auf die Idee, nach den Spuren des Virus in Leichen zu suchen, die der Dauerfrost in Alaska konserviert hatte. Seine erste Expedition im Jahre 1951 war aber nicht von Erfolg gekrönt. Erst 1997, als Hultin längst im Ruhestand war, kehrte er nochmals an den Fundort der Eisleichen zurück und lieferte dem amerikanischen Molekularbiologen Jeffery Taubenberger, dem eigentlichen Helden dieser Geschichte, einen weiteren Baustein für die vollständige genetische Entschlüsselung des Killervirus. Taubenberger, der das Buch des amerikanischen Medizinhistorikers Alfred W. Crosbys über die lange Zeit aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängte Grippe von 1918 gelesen hatte, kam so Anfang der neunziger Jahre auf die geniale Idee, in der riesigen pathologischen Sammlung der amerikanischen Armee nach Gewebeproben von Soldaten zu fahnden, die 1918 der Grippe zum Opfer gefallen waren. Nach einigen Fehlschlägen gelang es ihm und seinem Team, das Virus, das damals den Tod von Millionen Menschen verursacht hatte, zu identifizieren und dann auch genetisch zu entschlüsseln.

Die Ironie der Geschichte ist, dass seine Entdeckung, die für die Entwicklung wirksamer Grippeimpfstoffe so bedeutsam ist, von «Nature», einer der führenden naturwissenschaftlichen Zeitschriften, abgelehnt wurde und schliesslich mit viel Glück in «Science» erschien. Erst damit war ihm der Entdeckerruhm endlich sicher. Es sollten noch einige weitere Jahre vergehen, bis ebenfalls amerikanische Forscher den Virustyp von 1918 so weit entschlüsseln und den Beweis führen konnten, dass der damalige Grippeerreger ebenfalls Vögel als Wirt benutzte, um dann zu einem für Menschen gefährlichen Erreger zu mutieren.


Robert Jütte, geboren 1954, ist Professor für Neuere Geschichte und Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Sozialgeschichte der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte sowie die Alltags- und Kulturgeschichte der frühen Neuzeit.