Rojava: Botschafter für einen inoffiziellen Staat

Nr. 19 –

Der Flüchtling Ibrahim Murad setzt sich in Deutschland für die kurdische Selbstverwaltung ein. Ein Besuch in der diplomatischen Niederlassung in Berlin.

«Wir streben ein System ähnlich wie in der Schweiz an, wir möchten ein unabhängiger Kanton sein»: Der Gesandte Ibrahim Murad über die Ziele Rojavas in Syrien.

Für einen Gesandten gibt sich Ibrahim Murad politisch: «Die Europäische Union ist passiv gegenüber den Verbrechen Erdogans», sagt er bestimmt. Auch dass die kurdische ArbeiterInnenpartei PKK in Deutschland als Terrororganisation gilt, missfällt ihm. «Die PKK ist eine kurdische Freiheitsbewegung, die wir respektieren», erklärt er. «Die deutsche Regierung will gute Kontakte zu Ankara, deswegen steht die PKK auf der Liste der Terrororganisationen», mutmasst er.

Der 24-Jährige ist Diplomat für die kurdische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien in Deutschland. Das Gebiet – auch bekannt unter dem Namen Rojava – wird völkerrechtlich nicht als eigener Staat anerkannt und gehört zu Syrien. «Jeder kennt die Selbstverwaltung, und inoffiziell werden wir schon anerkannt», sagt Murad. Lächelnd schiebt er hinterher: «Wir haben die Kraft, etwas zu bewegen.» Ginge es nach dem Willen des syrischen Diktators Baschar al-Assad und des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, gehörten Menschen wie Murad ins Gefängnis – mindestens.

Beratung für die Rückkehr

Der Amtssitz von Murad ist ein Büro in einem grauen Bürogebäude in Berlin-Friedrichshain. Nichts deutet von aussen auf die diplomatische Vertretung hin. Sie befindet sich in zwei dunklen Räumen, funktional eingerichtet mit Sesseln und Schreibtischen. Darauf stehen Bilder von verstorbenen internationalen KämpferInnen, die im Einsatz der KurdInnenmiliz YPG gegen den Islamischen Staat ums Leben gekommen sind.

Murad selbst sieht sich als Verteidiger eines weltweit einzigartigen Experiments einer politischen, säkularen Selbstverwaltung. «Wir wollen hier das Leben von Nord- und Ostsyrien repräsentieren», sagt der junge Mann mit dem kurzem Haar und Dreitagebart, der gerne Journalismus studieren würde. Sein Deutsch ist nahezu fliessend, dennoch fühlt er sich sprachlich unsicher und spricht deswegen lieber Kurmandschi, einen kurdischen Dialekt. Ein Freund übersetzt für ihn.

Das Deutschlandbüro wurde 2016 eröffnet. Insgesamt arbeiten acht Leute ehrenamtlich hier. Murad ist seit zwei Jahren ihr Vertreter. «Wir haben nicht die Befugnisse einer Botschaft, aber unsere Arbeit ist dieser ähnlich», erzählt er, während er seinen Gästen Tee und Pralinen bringt. So können hier Vollmachten ausgestellt werden, wenn jemand seine Immobilie in Rojava verkaufen möchte. Die Botschaftsmitarbeiter organisieren Konferenzen, an denen sie ihre Anliegen erklären, führen Gespräche mit dem Auswärtigen Amt und PolitikerInnen und sammeln Spenden. Auch RückkehrerInnen aus Deutschland werden hier, rund 3400 Kilometer von Rojava entfernt, unterstützt.

Im Gefängnis politisiert

Murad kennt die Anliegen der Geflüchteten, er ist selbst einer von ihnen. Geboren in Aleppo, wuchs er in einer politischen Familie auf. In seiner Geschichte spiegelt sich die ganze Tragik der syrischen KurdInnen wider: Als er auf die Welt kam, war sein Vater aus politischen Gründen im Gefängnis. Mit sechzehn Jahren wurde Murad selbst für achtzig Tage inhaftiert, weil er in Aleppo Demonstrationen für KurdInnen organisiert hatte. Ohne Anklage kam er in eine Gemeinschaftszelle. «Ich wäre noch heute dort, wenn meine Familie nicht für meine Freilassung gezahlt hätte», sagt Murad mit gesenkter Stimme. Er sei dort auch von den Wärtern misshandelt worden. «Als ich festgenommen wurde, war ich noch ein Kind und hatte nicht sehr viel Ahnung von der Politik», sagt er ruhig. «Politisiert habe ich mich dann im Gefängnis.» 2011, kurz nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs, entschied er sich zur Flucht.

Laut der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik lebten bis zum Kriegsausbruch zwischen zwei und drei Millionen KurdInnen in Syrien. Weil die Baath-Regierung in Damaskus die grösste nichtarabische Minderheit fürchtete, wurde diese Jahrzehnte systematisch unterdrückt. «Das Gefängnis war der einzige Ort, an dem wir frei Kurdisch sprechen konnten. Denn die Insassen waren alle Kurden», erinnert sich Murad.

Deswegen wünscht er sich ein Syrien, das vollständig selbstverwaltet regiert wird – wie Rojava. 2012 gegründet, verfügt es über eine autonome Verwaltung, ein eigenes Justiz- und Bildungssystem und militärische Einheiten. Ziel sei nicht ein eigener Staat, bremst Murad. Er ahnt, dass dieser ohnehin nicht zu erreichen ist. «Wir wollen ein Teil Syriens bleiben, aber Syrien soll sich weiterentwickeln. Wir streben ein System ähnlich wie in der Schweiz an, wir möchten ein unabhängiger Kanton sein», sagt er.

Während ein Ende des Bürgerkriegs in Syrien nicht absehbar ist, werden in Genf, initiiert durch die Vereinten Nationen, wieder einmal Gespräche zwischen dem Regime und der Opposition geführt. Gemeinsam soll eine neue Verfassung erarbeitet werden – doch auf Druck Ankaras dürfen die KurdInnen als geschlossene Fraktion nicht teilnehmen. Murad lächelt müde. «In unseren Gebieten leben fünf Millionen Menschen, die nicht berücksichtigt werden», kritisiert er. «Ohne uns gibt es in ganz Syrien keinen Frieden. Die ganze Welt weiss das.»