Weissrussland: Subbotnik statt Lockdown

Nr. 19 –

Ganz Europa fürchtet sich vor der Pandemie. Ganz Europa? Wie der weissrussische Präsident Alexander Lukaschenko zum hochrangigsten Coronaleugner Europas wurde.

Neue Bäume braucht das Land: Präsident Alexander Lukaschenko steckt am 25. April Setzlinge in den Boden. Foto: Maksim Guchel, Keystone

Alexander Lukaschenko rammt die Gartenkralle in den Boden und tritt auf das Fusspedal, bis der Setzling in die Erde fällt. In schweren Camouflagehosen kämpft er sich Schritt für Schritt, Meter für Meter durch den Acker, von einer Brigade HelferInnen flankiert. 8000 neue Bäume wurden allein an diesem Tag gepflanzt, unter Mithilfe des Präsidenten, «der bekannt ist für seine Liebe zur Natur», wie eine Fernsehsprecherin in den Abendnachrichten feierlich verkünden wird. Ein «Subbotnik» – ein freiwilliger samstäglicher Arbeitseinsatz – wie aus dem Sowjetbilderbuch.

Es ist der letzte Samstag im April, an dem der weissrussische Präsident und ehemalige Sowchosbauer sein Volk traditionell zum kollektiven Frühjahrsputz verdonnert. So auch in diesem Jahr: Insgesamt 2,3 Millionen WeissrussInnen, immerhin jedeR Vierte, sollen sich wieder am gemeinschaftlichen Strassenkehren, Bäumepflanzen, Abfallsammeln und Zäunestreichen beteiligt haben. Allerdings ohne Schutzmasken, Handschuhe oder sonstige Sicherheitsvorkehrungen, wie auf dem grossen Gruppenfoto der HelferInnen von Lukaschenko zu sehen ist. Es sind Fernsehbilder, die in jedem anderen europäischen Land inzwischen undenkbar geworden sind. Doch in Weissrussland sollen sie dieser Tage signalisieren: alles unter Kontrolle.

Nur die Wiederwahl zählt

Alexander Lukaschenko ist der hochrangigste Coronaleugner Europas. Seit dem Ausbruch der Pandemie hat es im Land zwischen Polen, Litauen, Lettland, Russland und der Ukraine, das knapp zehn Millionen EinwohnerInnen zählt, kaum Einschränkungen gegeben. Kein Ausnahmezustand, keine Maskenpflicht, keine Ausgangssperre. Geschäfte, Cafés und Schulen sind geöffnet. Mal hat Lukaschenko die Pandemiemassnahmen anderer Länder als «Coronapsychose» abgetan, mal zu gründlichem Händewaschen, gesunder Ernährung, regelmässigen Saunabesuchen, Traktorfahrten oder Wodkatrinken geraten. So wird in Weissrussland auch immer noch Profifussball gespielt, was der ersten Spielliga, der Wyschejschaja Liha, ungeahnte Aufmerksamkeit und internationale TV-Verträge eingebracht hat.

Offiziell sind in Weissrussland bisher mehr als hundert Menschen an Covid-19 gestorben, doch selbst die offiziell bestätigten Fälle sind bis am Mittwoch auf über 19 000 Corona-Erkrankte stark angestiegen. Die WHO hat die Situation in Weissrussland mittlerweile als «bedenklich» eingestuft, da dem Land eine neue Phase der Pandemie bevorstehe, und eine «sofortige Umsetzung einer umfassenden Strategie» gefordert, um etwa Grossveranstaltungen abzusagen. Auch in der EU sieht man den Minsker Sonderweg mit zunehmender Sorge. «Das exponentielle Wachstum der Fälle in Weissrussland zeugt davon, dass es noch grosse Auswirkungen in diesem Land geben wird», so Katarina Mathernova, stellvertretende Leiterin für Nachbarschaftspolitik in der EU-Kommission, in einem Statement.

Hinter dieser Strategie steckt aber mehr als der Realitätsverlust eines Autokraten. Weissrussland schrammt seit Jahren am Staatsbankrott vorbei, ein Streit über Rohöl, das aus Russland importiert, weiterverarbeitet und exportiert wird, hat der Wirtschaft zugesetzt, der niedrige Ölpreis tut sein Übriges. Am 30. August will sich Lukaschenko zum fünften Mal wiederwählen lassen – da darf die Wirtschaft nicht komplett stillstehen. Wer keinen Lockdown verhängt, kommt zudem gar nicht in die Verlegenheit, Unternehmen retten zu müssen. «Das ist natürlich eine riskante Taktik, die das Wohl der Wirtschaft über die Menschenleben stellt», sagt der Minsker Politologe Alexander Klaskouski.

Kurven auf dem Eis

Doch in der Bevölkerung rumort es inzwischen. In den wenigen unabhängigen Medien wird von einer ungewöhnlichen Häufung von Lungenentzündungen berichtet. In einem Krankenhaus, siebzig Kilometer von der Hauptstadt Minsk entfernt, sollen allein in einer Nacht fünf Menschen an einer Lungenentzündung gestorben sein. In den sozialen Medien macht schon der Ausdruck eines «zweiten Tschernobyl» die Runde – die Sowjets wiegten damals die Bevölkerung lange in Sicherheit, während sich die Strahlenwolke über Europa verbreitete. Ein Unbehagen, dass inzwischen viele BürgerInnen dazu gebracht hat, auf eigene Faust in Selbstisolation zu gehen oder die Fussballspiele zu boykottieren.

Zuletzt hat Lukaschenko seine Rhetorik zwar etwas abgeschwächt, die Feierlichkeiten anlässlich des 1. Mai abgesagt und eine Quarantäne für die Zukunft zumindest nicht mehr völlig ausgeschlossen. «Aber ich möchte betonen, dass in Weissrussland bisher keine einzige Person am Coronavirus gestorben ist», teilte Lukaschenko bei einer Regierungskonferenz mit, immerhin hätten alle Todesopfer unter einer «langen Liste von Vorerkrankungen» gelitten. Die Militärparade zum 9. Mai, dem «Tag des Sieges», die mittlerweile sogar in Moskau abgesagt wurde, soll aber stattfinden.

Im Fernsehen beschwört Lukaschenko indes die alte Normalität. Erst unlängst liess er sich beim Eishockey filmen, dem weissrussischen Nationalsport, und forderte seine Landsleute auf, es ihm nachzutun: Die Eisfläche sei ein «Kühlschrank», die Kälte «das beste Antivirusmittel». Ein Teamkollege, mit dem er seine Runden drehte, ist inzwischen positiv auf Corona getestet worden.