Polnische Farce: Der kopflose König stolpert
Die verfassungswidrige Präsidentschaftswahl ist in Polen gerade noch einmal verhindert worden. Zwei Szenarien scheinen nun möglich: eine autoritäre Herrschaft der PiS oder aber ihr baldiger Sturz.
Ist das der von vielen erhoffte Durchbruch – jener Punkt, an dem sich entscheidet, ob Polen demokratisch bleibt oder aber vollends in einen neuen Autoritarismus à la Viktor Orban abgleitet? Zurzeit keimt die Hoffnung auf Ersteres – oder zumindest darauf, dass die Herrschaft der rechtskonservativen Regierung mit der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) an der Spitze entscheidende Risse bekommen hat.
Am vergangenen Sonntag hätte der Präsident neu gewählt werden sollen. PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski wollte es so, trotz Widerstand von Opposition und JuristInnen, Warnungen von ÄrztInnen und faktischem Ausnahmezustand. Andrzej Duda sollte unbedingt sein Amt behalten. Weil er jedes Gesetz blockieren kann, ist das Amt des Präsidenten entscheidend. Mit einem oppositionellen Staatschef als Co-Kapitän würde das Kaczynski-Schlachtschiff seinen Kurs nicht halten können.
Hinzu kam: je später die Wahl, desto schlechter Dudas Wahlchancen. Wegen der wachsenden Unzufriedenheit mit der Pandemiebekämpfung, der ökonomischen Probleme und der immer offensichtlicheren Mängel im Gesundheitssystem dürften die PiS und der Präsident mittelfristig an Zustimmung verlieren. Weil klar war, dass es in Zeiten von Corona keine traditionelle Wahl geben konnte, liess Kaczynski ein haarsträubendes Briefwahlgesetz durchs Parlament drücken, bei dem der polnischen Post die Rolle der staatlichen Wahlkommission zugefallen wäre. Der Vorgang offenbarte, dass Kaczynski als informeller Staatslenker in seinem unbedingten Willen zu Erhalt und Ausbau der Macht überbordet hat.
Womöglich hat Kaczynski die Aussicht auf ein unbefristetes Regieren per Dekret und ohne Parlament wie in Ungarn die Sinne geraubt. Doch ein Kleinkoalitionär der PiS, der machtbewusste Jaroslaw Gowin, und ein Teil der achtzehn Abgeordneten seiner moderaten Mitte-Rechts-Gruppierung Porozumienie widersetzten sich. Gowin pochte auf einen späteren Termin – nun wohl Ende Juni oder Anfang Juli –, den Verzicht auf eine reine Briefwahl und die Wiedereinsetzung der staatlichen Wahlkommission. Die Wahl vom Sonntag musste abgeblasen werden.
Weder weise noch allmächtig
Was bedeutet die Farce für die 38 Millionen PolInnen? «Gowins Rebellion lässt hoffen, dass Kaczynski kein Diktator wird», schreibt das linke Magazin «Przeglad». Tatsächlich führte Gowins «Nie!» der ganzen Republik vor Augen: Kaczynski ist weder der weise noch der allmächtige Stratege, zu dem er in den fünf Regierungsjahren der PiS von Freund und Feindin stilisiert worden war.
In dieser Zeit hat die PiS vieles durchsetzen können. Bis heute missachtet sie die Verfassung, umgeht Rechtsnormen, kapert Zug um Zug das Justizsystem und lässt in den Staatsmedien derart plumpe Propaganda senden, dass man sie mit Fug und Recht als orwellsches «Ministerium der Wahrheit» bezeichnen könnte. Die US-amerikanische NGO Freedom House hat Polen in ihrem jüngsten Bericht erstmals als «halbkonsolidierte Demokratie» bewertet, die auf ungarischen Pfaden schreite. Ungarn wird in der Analyse nicht mehr als Demokratie eingestuft, sondern als «hybrides Regime». Dies alles schon vor der Pandemie.
Mit den jüngsten antidemokratischen Voten nahmen in Polen auch die Proteste zu. Die Polizei schüchterte die Menschen ein und verhaftete friedliche DemonstrantInnen – vordergründig wegen der Pandemiebekämpfung. «Wir sind Zeuge, wie ein Polizeistaat errichtet wird», sagte der inzwischen verstorbene Oppositionelle Karol Modzelewski schon 2018. Doch einen PiS-Polizeistaat wollen sich viele nicht gefallen lassen.
Immer stärker verbreitet sich in der Bevölkerung die Ansicht, die PiS agiere kopflos und habe die Krise nicht im Griff. Die Schutzmassnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19 werden verschärft oder gelockert, wie es der PiS und dem Präsidenten am zuträglichsten scheint. Und der finanzielle Krisenschutzschild liest sich zwar in der Theorie gut, doch die Lücke zur Realität klafft immer weiter auseinander: Armut und Arbeitslosigkeit steigen.
Nahe am Staatsstreich
Kaczynskis Blamage vom Sonntag könnte mittelfristig nicht nur zum Zerfall der Koalition und zu vorgezogenen Parlamentswahlen führen, sie beschleunigt auch eine scheinbar paradoxe Entwicklung: Eine ins Autoritäre strebende Regierung verliert in den Augen von immer mehr Menschen an Autorität, weil sie unfreiwillig ihr Potenzial und die eigenen Ziele entblösst. Der König ist noch nicht nackt, aber erscheint zumindest als schlechter König.
Am Wochenende sickerte aus der PiS-Zentrale durch, Kaczynski habe erwogen, die Wahl kurzfristig auf den 23. Mai zu verlegen, was einem Staatsstreich nahegekommen wäre. «Jeder im Land konnte sehen, dass der PiS-Chef für den Machterhalt zu allem bereit ist», schrieb die konservative Zeitung «Rzeczpospolita». Die Gesundheit der Menschen, die ökonomischen und sozialen Folgen der Krise, die demokratischen Standards? Für Kaczynski und seine Lakaien ist das offenbar zweitrangig.
Polen befindet sich mehr denn je am Scheideweg, Dudas Zustimmungswerte sinken langsam. Seit Sonntag ist zumindest das düstere ungarische Szenario etwas weniger wahrscheinlich geworden. Und das ist in diesen Zeiten schon viel.