Vor der Sommersession: Noch ist das Fenster offen

Nr. 22 –

Bald wird alles wieder so sein, wie es immer war. Das erzählen uns die Lockerungsmassnahmen in der Coronakrise. Milliarden wurden freigesetzt, um Firmen und Angestellte zu unterstützen. Die Politik, egal ob Bundesrat oder Parlament, spritzt überall Beton ins Mauerwerk, wo es zu bröckeln beginnt.

Aber damit werden auch Strukturen zementiert, die eigentlich aufgebrochen gehören. Für den Tourismus etwa werden weitere Hilfspakete gesprochen – aber sollten wir die Vergnügungsparks in den Alpen angesichts der Klimaerhitzung nicht sowieso zurückbauen? Und warum eigentlich stützen wir eine Swiss mit derart viel Steuergeld, obwohl die Fliegerei die Klimaziele hintertreibt?

Es gibt zwei Erklärungen dafür. Die vordergründige ist der oft angeführte konservative Reflex in Krisenzeiten. Die zweite, etwas hintersinnigere, liegt in der Angst, dass jetzt Dinge in Bewegung geraten könnten, die sich später nicht mehr aufhalten oder zurückverhandeln lassen.

Während der Pandemie zeigt sich ein interessantes Phänomen: Wir sind zwar dem Virus ausgeliefert und teilweise gar vorübergehend entmündigt worden, aber gleichwohl hat sich uns ein neuer Gestaltungsraum eröffnet. Und das in geradezu physischer Weise: Wer zehn Menschen anstecken oder vor einer Ansteckung und dem möglichen Tod bewahren kann, der ist bedeutend. Er ist nicht den Umständen ausgeliefert. Das ist eine kraftvolle, ermutigende Erfahrung von Selbstbestimmtheit.

Wir teilen diese Erfahrung über Familien-, Städte- und Landesgrenzen hinaus. Das weckt Empathie – und diese wiederum den Sinn für ein bewussteres Miteinander. Schon zeigen internationale Umfragen, dass eine grosse Mehrheit keine Produkte mehr von Firmen kaufen will, die ihre Profite über das Allgemeinwohl stellen. Ähnlich fällt der neuste Stimmungstest zur Konzernverantwortungsinitiative aus.

Die Coronakrise hat uns in Ängste gestürzt; sie hat uns aber auch aus der Gleichgültigkeit gehoben – und die Verantwortung für uns und andere körperlich gemacht. Darin liegt ein gewaltiges politisches Potenzial. Leider liegt es bislang brach. So beflissen SP-Präsident Christian Levrat an den Gemeinsinn appelliert und zum Aufhängen von Solidaritätsfähnchen aufruft: Die parlamentarische Linke gibt sich weitgehend gouvernemental, wenn sie für vom Bundesrat vergessene Gruppen Geld herausschlägt – wie ein Klassenprimus, der die Lehrerin korrigiert.

Nichts gegen Händeklatschen und Fähnchenschwingen. Und schon gar nicht dagegen, Geld für Prekarisierte oder KleinunternehmerInnen in Not zu fordern. Damit ist es aber nicht getan. Jetzt liegt mehr drin, als die Härten der Wirtschaftskrise abzufedern. Jetzt muss es an die Ursachen gehen. Denn trotz Milliardenhilfen: Bereits werden die Arbeitslosenämter und Sozialhilfebehörden überrannt. Und Hunderttausende in schlecht bezahlten Berufen müssen weiterhin täglich Ansteckungsrisiken in Kauf nehmen, weil ihnen keine Wahl bleibt. Ein Viertel der Haushalte in der reichen Schweiz hat keinen einzigen Franken auf dem Sparbuch. Auf der anderen Seite sind die grossen Vermögen seit der Jahrtausendwende stark gewachsen. Levrat hat dazu im «SonntagsBlick» vage eine Erbschaftssteuer skizziert. Sie kann erst der Anfang sein.

Es ist kein Naturgesetz, dass die Lasten in unserer Gesellschaft so ungleich verteilt sind. Dass die einen wie gottgegeben reicher und reicher werden und andere um ihre Existenz bangen. Und darunter ausgerechnet auch jene, die uns mit ihrer systemrelevanten Schwerarbeit durch die Krise getragen haben. Wenn der brutale Verteilungskampf zur Refinanzierung der Coronakosten losgeht, muss hierauf der Fokus liegen. Damit auch jene Verbesserungen eintreten, die man jetzt verspricht – etwa beim Pflegepersonal, das dafür sorgt, dass wir gesunden, während es selber krank wird vor Belastung.

Noch ist das Zeitfenster für gesellschaftliche Veränderungen offen.