Jason W. Moore: «Die Macht des einen Prozents gerät unter Druck»
Für den Grossteil der Menschheit war der Kapitalismus schon immer eine Katastrophe: Der Soziologe Jason W. Moore spricht über Klimaflüchtlinge im 4. Jahrhundert, den Immobilienmarkt bei ansteigendem Meeresspiegel und die Erfindung der Wildnis.
WOZ: Jason W. Moore, in Ihrem Buch «Kapitalismus im Lebensnetz» fordern Sie, dass linke Ökologie den Dualismus «Gesellschaft / Natur» überwinden sollte. Sie betonen die Verschränkung: Gesellschaften erschaffen Umwelten, Naturen koproduzieren Gesellschaftsordnungen.
Jason W. Moore: Den Ansatz, den ich und andere verfolgen, nennen wir Weltökologie. Darunter verstehen wir weniger eine Theorie als einen Dialog, der das Ziel hat, den Kapitalismus als eine Ökologie von Produktion, Reproduktion und Macht in einem Netz des Lebens zu beschreiben. Auf Englisch sprechen wir von «environment making», also dem gesellschaftlichen Erschaffen von spezifischen Umwelten.
Was können wir uns darunter vorstellen?
Die Geburt des Nationalismus, der Imperialismus, die Industrialisierung – das alles sind Prozesse des «Umweltmachens», die dialektisch verstanden werden müssen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass wir bei «Umwelt» nicht nur an Farmen, Felder, Vögel, Bienen und Tiere, sondern auch an kulturelle und soziale Umwelten denken. In diesem breiteren Verständnis von «environment making» sind Klasse, Imperium und das globalisierende Patriarchat wechselseitig miteinander verschränkt.
In einem Aufsatz über den Aufstieg der Niederlande als Kapitalmacht im 17. Jahrhundert haben Sie das einmal durchgespielt. Der ökonomische Erfolg der Niederlande habe auf grossen ökologischen Veränderungen und Landnahmen beruht: dem Getreideanbau im Baltikum, dem Holzschlag in Skandinavien. Dieses Naturverhältnis erschöpfte sich schliesslich.
Mir geht es darum zu zeigen, dass die kapitalistische Moderne immer spezifische umweltmachende Projekte entwickelt hat. Auf diese Weise stellt sie bestimmte Lebensnetze her – das Ziel dabei ist, die Möglichkeit der Profiterzielung zu erhöhen. Im Inneren dieses Projekts steht eine begriffliche, aber auch politisch-praktische Unterscheidung, nämlich die zwischen Zivilisation und Wildnis. Als die Europäer nach Amerika, Südostasien und Afrika gingen, brachten sie diesen Dualismus mit sich. Teilweise in Gestalt von «Christianisierung / Heidentum», nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Vorherrschaft der USA dann zunehmend als «Entwicklung / Unterentwicklung».
Man könnte also sagen, der Aufstieg des Kapitalismus beruht auf der Erfindung der «Natur». Präkapitalistische Gesellschaften kennen keine strikte Unterscheidung zwischen sich und ihrer Umwelt. Das ist auch deshalb bedeutend, weil diese begriffliche Differenzierung historisch eng mit Patriarchat und Rassifizierung verknüpft ist. Viele Menschen wurden aus dem Zivilisationsprojekt ausgeschlossen und der Wildnis zugeordnet: Frauen, Nichtweisse und im Besonderen Afrikanerinnen, Indigene, Kelten und Slawinnen.
Sie sagen auch, dass die Verwertung des Kapitals nur so lange funktioniert, wie es ein Aussen gibt, das sich in Besitz nehmen lässt: Kolonien, kostenlose «Naturräume», die Haus- und Sorgearbeit von Frauen.
Das ist eine These von Rosa Luxemburg, die ich für die wichtigste marxistische Theoretikerin des 20. Jahrhunderts halte und die den Imperialismus als eine notwendige Konsequenz kapitalistischer Ökonomie betrachtet hat. Mein Argument ist, dass die Aneignung unbezahlter Arbeit nicht nur mithilfe von Kanonenbooten und Helikoptern erfolgt, sondern auch durch das sogenannte zivilisatorische Projekt selbst. Es gibt eine geokulturelle Praxis der Aneignung – hier beziehe ich mich auf die grossartigen Bücher der Feministin Maria Mies. Anders ausgedrückt: Jeder kapitalistische Sprung beruhte auf einer noch grösseren Welle der Aneignung kostenloser Arbeit von Frauen, Natur und Kolonien mithilfe von Gewalt, Kultur und Wissenschaften.
Wichtig erscheint mir, dass der Kapitalismus dabei nicht einfach nur zerstört. Er mobilisiert enorme Gewalt gegen alle Formen des Lebens – des menschlichen wie des nichtmenschlichen – und verwandelt das Lebensnetz dabei in Profitmöglichkeiten. Dies geschieht entweder durch direkte Kommodifizierung, beispielsweise indem man eine Landschaft in eine grosse Mine oder eine Agrarplantage verwandelt. Oder durch eine bestimmte Rationalität und Expertise, mit der sich unbezahlte Arbeit sicherstellen lässt.
Auch hier verweisen Sie auf eine Erschöpfung des Modells: Je mehr Lebensbereiche und Regionen in Wert gesetzt sind, desto kleiner wird das Aussen. Was bedeutet das nun aber für die Zukunft?
Der Klimawandel untergräbt das Modell der billigen Natur. Wo lässt sich eine neue Front vorantreiben, wo also könnten Gebiete und Bereiche erschlossen werden, die bislang relativ unberührt vom Kapital sind? In Europa wird oft nach Afrika gefragt, aber dieser Kontinent ist vom Imperialismus bereits gründlich verwüstet worden. Ich halte das für ein systemisches Problem der Kapitalakkumulation: Die Quellen der einfach anzueignenden Arbeit von Frauen, Natur und Kolonien versiegen allmählich. Gleichzeitig wächst der Kapitalstock. Bei Bloomberg war vor einigen Monaten zu hören, dass dreizehn Billionen US-Dollar in nationalen Schuldverschreibungen geparkt sind, die keine oder Negativzinsen einbringen. Ein klassisches Problem der Überakkumulation. Ein weiterer Anlageort sind Immobilienmärkte – die stark vom Klimawandel betroffen sein werden, weil der ansteigende Meeresspiegel grosse Immobilienvermögen vernichten wird.
Sie kritisieren die apokalyptischen Vorstellungen von Teilen der Umweltbewegungen, argumentieren aber selbst, dass die kapitalistische Moderne ihre ökologisch-materiellen Grenzen überschreitet, weil ihr Stoffwechsel mit der Natur nicht nachhaltig ist.
Vielleicht sollte man sich zunächst vergegenwärtigen, dass der Kapitalismus für einen grossen Teil der Menschheit schon immer eine Katastrophe war und ist. Auf der anderen Seite ist der Begriff der Apokalypse tief in einer christlich-apokalyptischen Tradition verwurzelt. Teile der ökologischen Linken in den USA klingen ganz ähnlich wie der christliche Fundamentalismus: «Dies ist der Moment der Wahrheit», «der grosse Bruch» und so weiter. In dieser Erzählung übt die Natur Rache, und wir müssen uns organisieren, um die Menschheit zu retten. Ich denke stattdessen, dass wir uns intensiver mit den globalen Macht-, Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehungen beschäftigen sollten, die mit den biophysikalischen Naturen verknüpft sind.
Können Sie das noch etwas ausführen?
Ich würde begrifflich zwischen Krise und Katastrophe unterscheiden und von einer epochalen Krise sprechen. Charakteristisch für diese Art der Krisen ist, dass sie sich teilweise über ein Jahrhundert hinziehen. Es ist also gut möglich, dass es Gebiete auf der Welt geben wird, in denen die sozialen Beziehungen in den nächsten zwanzig, dreissig oder vierzig Jahren sehr ähnlich aussehen werden wie heute. Und doch entfalten sich auf systemischer Ebene sozioökologische Probleme und Krisen, die durch Macht und Business as usual nicht gelöst werden können.
Müssen wir weiter in der Geschichte zurückblicken, um zu verstehen, wie Klimaprozesse und grosse Krisen Gesellschaften verändern?
Ja, denn Zivilisationen stürzen nicht durch einen Sturm auf die Bastille oder den Winterpalast. Mir scheint, dass Marxisten keine Alternative zum Begriff des Kollapses entwickelt haben. Der «Kollaps von Zivilisationen» war nämlich in der Geschichte häufig ein Kollaps des oberen einen Prozents einer Klassengesellschaft. Als Westrom zusammenbrach, kollabierte die Welt der oberen ein bis zehn Prozent, doch für etwa fünf Millionen Menschen bedeutete es das Ende der Sklaverei, und die Bauernschaft erlebte in Zentraleuropa im 6. und 7. Jahrhundert eine Art goldenes Zeitalter. Ganz ähnlich war auch das Ende des europäischen Feudalismus, der durch Pandemien und Klassenkämpfe besiegt wurde: Damals stieg der Lebensstandard für Bauern und Arbeiterinnen für etwa 150 Jahre, bis es zu einer Gegenrevolution kam.
Wie wird der Klassenkampf der Zukunft aussehen?
Krisen eröffnen Gelegenheiten. Der Klimawandel wird das Leben für die unteren achtzig bis neunzig Prozent der Weltbevölkerung gewiss viel schwieriger machen. Doch auch die Macht des oberen einen Prozents gerät unter Druck. Und hier eröffnet sich die Möglichkeit, uns eine nichtkapitalistische Gesellschaft vorzustellen. Der alte linke Slogan, der jetzt neu aufgelegt wird, «Ökosozialismus oder Barbarei», ist in diesem Zusammenhang allerdings eine fürchterliche und völlig falsche Metapher, denn erstens waren die Barbaren des späten 4. Jahrhunderts selbst Klimaflüchtlinge, und zweitens zerstörten sie die Sklavenhaltergesellschaft Roms.
Natur und Gesellschaft
Jason W. Moore lehrt und forscht als Soziologe, Umwelthistoriker und historischer Geograf an der Binghamton-Universität im US-Bundesstaat New York.
Der 49-Jährige ist Autor der überaus originellen Studie «Capitalism in the Web of Life. Ecology and the Accumulation of Capital», mit der er international viel Aufsehen erregte. Das Buch ist Ende 2019 auch auf Deutsch erschienen: «Kapitalismus im Lebensnetz» bei Matthes & Seitz, Berlin (471 Seiten, 52 Franken).