Journalismus in Libyen: Zwischen Fake News, Bots und Trollarmeen
Die Macht in Libyen wird auch im Kampf um die Deutungshoheit verhandelt: Wer das Narrativ des Kriegs zu beeinflussen versucht und welche Seite dabei kaum vorkommt – eine der wenigen unabhängigen Journalistinnen vor Ort erzählt.
Eman Ben Amer hat ein Ziel: dass sie ohne Angst sagen kann, was sie denkt. Dafür nimmt die Journalistin in Kauf, dass bewaffnete Gruppen ihre Kamera beschlagnahmen. Sie nimmt in Kauf, an Checkpoints von Männern gefilzt zu werden und selbst unter Beschuss zu kommen. «Wenn ein Milizionär eine Kamera sieht», sagt Ben Amer, «sieht er eine Waffe.»
Ben Amer kämpft für Meinungs- und Pressefreiheit in ihrem Heimatland Libyen, das vom Krieg zerrüttet ist und heute als eines der gefährlichsten Länder für JournalistInnen gilt. Dabei sind es nicht nur physische Gefahren, die die Arbeit der Reporterin erschweren. Denn im Kampf der Konfliktparteien um die Deutungshoheit bleibt kaum noch Platz für Nuancen und Kritik. Und wie der Krieg selbst längst zu einem Stellvertreterkrieg geworden ist, so wird auch das Narrativ dazu heute massgeblich ausserhalb von Libyen bestimmt: in den Hauptquartieren von libyschen Fernsehsendern in Amman, Tunis oder Istanbul, von saudischen oder emiratischen Trollarmeen in den sozialen Medien. Mit Auswirkungen nicht nur auf den Konflikt selbst, sondern auch darauf, wie wir ihn wahrnehmen.
Spiegel der politischen Verhältnisse
Seit 2016 arbeitet Ben Amer bei der Libyan Cloud News Agency (LCNA). Die Nachrichtenagentur hat es sich zum Ziel gemacht, unabhängig und über die Frontlinien hinweg zu berichten. Rund 25 KorrespondentInnen arbeiten in allen Landesteilen. «Die Libyer wollen wirkliche Nachrichten», sagt der Chefredaktor Tarek Alhouny. Und in den grossen libyschen Fernsehkanälen und Agenturen, die inzwischen fast alle zum Sprachrohr der jeweiligen Konfliktpartei geworden sind, komme eine Seite kaum vor: die Menschen, die in Libyen leben.
Alhouny hat die Agentur 2015 gegründet.* Ihr Fokus liegt nicht auf den politischen und militärischen Entwicklungen. Zwar finden sich auf der Website auch zahlreiche Meldungen über Angriffe auf Wohnviertel und Häuser. Doch viel wichtiger sei die Frage, was danach passiere, so Alhouny: Was wurde aus den BewohnerInnen? Wenn sie fliehen mussten, wo gingen sie hin? Welche Infrastruktur wurde zerstört?
Die Medienlandschaft in Libyen ist ein Spiegel dafür, wie sich die politischen Verhältnisse seit dem gewaltsamen Sturz des Diktators Muammar al-Gaddafi 2011 verändert haben. In den ersten Jahren nach seinem Fall entstanden über fünfzig Fernsehstationen und Dutzende Zeitungen, zudem eine Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die humanitäre Hilfe leisteten oder sich für den Aufbau eines Rechtsstaats einsetzten.
2014 eskalierte die Gewalt, und ein zweiter Bürgerkrieg brach aus. Zwei politische Lager dominieren seither den Konflikt: die Regierung der nationalen Einheit in Tripolis auf der einen, die Libysche Nationalarmee des Generals Chalifa Haftar auf der anderen Seite. Während die Regierung in Tripolis von der Türkei und Katar Unterstützung erhält, wird Haftar direkt oder indirekt von den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien, Ägypten, Russland und Frankreich unterstützt.
Heute werden die meisten grossen Fernsehstationen von ebendiesen Ländern finanziert, die im Konflikt mitmischen, und berichten einseitig zugunsten des einen oder des anderen Lagers. Das Libyan Center for Freedom of Press (LCFP) untersuchte kürzlich das Ausmass von Fake News und Hate Speech bei fünfzehn Fernsehsendern und Agenturen. Im ersten Quartal 2020 fand es 12 576 Fälle.
Inszeniert als Retter des Landes
Vor allem General Haftars Aufstieg wurde früh von einer gezielten Propagandakampagne begleitet. «2013 wurde Haftar in Artikeln und den sozialen Medien als Retter Libyens inszeniert», sagt Tarek Megerisi vom Thinktank European Council on Foreign Relations. «Dabei herrschte damals noch eine ganz andere Dynamik.»
Haftar, der als Einziger den Terrorismus bekämpfe und das gespaltene Land einen könne: Dieses Narrativ, sagt Megerisi, sei bewusst von Saudi-Arabien, den Emiraten und Ägypten aufgebaut worden. Und wie gross ihr Einfluss auf die Erzählung des Libyenkriegs ist, zeigte sich im Zuge der Offensive auf die Hauptstadt Tripolis, die Haftar im April 2019 startete und die über ein Jahr dauerte. Erst in den vergangenen Wochen haben es die Streitkräfte in Tripolis geschafft, Haftar vollständig zurückzudrängen. Ein Wendepunkt: Seine Ambitionen, über ganz Libyen zu herrschen, scheinen endültig abgewehrt.
Laut einer Untersuchung des italienischen Centro Studi Internazionali stammt ein Drittel der online veröffentlichen Beiträge zu Libyen in jener Zeit aus Saudi-Arabien – aus Libyen selbst waren es gerade einmal sieben Prozent. In den sozialen Medien versucht eine Armee von saudischen und emiratischen Bots auf Arabisch – und inzwischen auch vermehrt auf Englisch und Französisch –, das Narrativ zu beeinflussen. Vergangenes Jahr sperrten Facebook und Twitter deswegen Zehntausende saudische und emiratische Accounts. «Wenn du heute Artikel zu Libyen bei Google suchst, wirst du immer auf der ersten Seite einen aus Saudi-Arabien finden», sagt Megerisi. «Das ist gefährlich. Wenn du dich als Journalist oder als Politiker neu mit dem Thema auseinandersetzt, wirst du diese Texte zuerst lesen. Das wird dein Verständnis des Kriegs mitprägen.»
Auch auf der anderen Seite wird Propaganda betrieben – wenn auch nicht ganz so erfolgreich, so Megerisi. Erst mit dem Angriff Haftars auf die Hauptstadt, der die Regierung und die Milizen dort existenziell bedrohte, fingen sie an, das Narrativ zu pushen: von der demokratischen Regierung, die sich gegen eine mögliche Diktatur mit Haftar an der Spitze stelle. «Dabei ist diese Regierung alles andere als demokratisch», sagt Megerisi.
Die Folgen dieses Informationskriegs sind verheerend. «Er bringt die Libyer gegeneinander auf», sagt Tarek Megerisi. So wurde etwa Haftar 2014 als neuer Sisi kolportiert, der die Muslimbrüder und islamistischen Terror bekämpfe. «Vielen Leuten hat es Angst eingejagt zu sehen, wie die Muslimbrüder in Ägypten an der Macht vorgegangen sind», sagt Megerisi. Das Schüren von Vorurteilen und Angst habe den Krieg grösser gemacht, als er es hätte sein müssen.
Gleichzeitig stellt er fest, wie sehr das Narrativ vom «starken Mann» in DiplomatInnenkreisen auf fruchtbaren Boden fällt. «Es gibt dieses orientalistische Stereotyp, dass arabische Gesellschaften qua Naturgesetz einen starken Führer bräuchten», sagt Megerisi. «Es ist eine komfortable Position, die es einem erlaubt, die Augen zu verschliessen vor dem, was wirklich passiert.» Der Vergleich Haftars mit Abdel Fatah al-Sisi oder Baschar al-Assad versage schon deswegen, weil es in Libyen keine starke Armee wie in Ägypten und keinen starken Staat wie in Syrien gebe.
Wer das Narrativ kontrolliert, kontrolliert das Land. Dies, so sagt Megerisi, sei die Lehre Saudi-Arabiens und der Emirate aus dem Arabischen Frühling von 2011. Sie sahen, welchen Einfluss der katarische Fernsehsender al-Dschasira hatte: Er trug sogar dazu bei, dass die US-Regierung dem ägyptischen Machthaber Hosni Mubarak die Unterstützung entzog. Für die beiden Golfstaaten geht es zum einen darum, den Konkurrenten Katar zu schwächen – aber auch darum, jegliche Demokratiebewegungen in der Region zu unterdrücken und das Narrativ vom Arabischen Frühling zu ändern.
Gegenwind erfahren die beiden Golfstaaten dabei kaum. Für ihren Einsatz im Libyenkrieg etwa werden die Emirate, anders als die Türkei oder Russland, kaum kritisiert – obwohl auch sie das Uno-Waffenembargo wiederholt verletzt und seit Frühling 2019 in Libyen zahlreiche Einsätze mit Kampfdrohnen und -jets geflogen haben. Der Grund dafür liegt vor allem in den guten Beziehungen, die die europäischen Staaten zu den Emiraten pflegen. Dies geht so weit, dass die Emirate selbst in den Berichten der Uno kaum vorkommen – sogar in Fällen, wo ein Angriff, der vermutlich ein Kriegsverbrechen darstellt, eindeutig auf sie zurückzuführen ist. «Es gibt diesen Witz, dass die Emirate wie Lord Voldemort seien – weil niemand wagt, sie beim Namen zu nennen», sagt Megerisi.
Entführt, gefangen, gefoltert
Doch der Kampf um Deutungshoheit ist auch ein Kampf beider Seiten gegen Kritik im Inneren. «Jene an der Macht wollen das Narrativ kontrollieren, das aus Libyen kommt», sagt Elham Saudi, die Direktorin der NGO Lawyers for Justice in Libya. Seit 2014 werden Journalistinnen und Aktivisten immer mehr zum Ziel von Attentaten und Entführungen. Der Aktivist und Blogger Jabir Zain etwa verschwand 2016, nachdem er auf einem Podium in Tripolis über Frauenrechte diskutiert hatte. Jemand schickte sein Foto einer Miliz, die mit der Regierung in Tripolis zusammenarbeitet – woraufhin er entführt und zwei Jahre lang festgehalten und gefoltert wurde.
Eman Ben Amer von der Agentur LCNA sagt, es werde immer schwieriger, überhaupt Menschen zu finden, die vor der Kamera sprechen wollten. «Die Leute haben Angst.» Das gehe so weit, dass viele in Tripolis nicht nur die eigene Regierung nicht mehr kritisieren wollten – sondern sogar die Streitkräfte Haftars, selbst wenn sie von diesen angegriffen worden seien. «Sie fürchten sich davor, was passieren könnte, wenn Haftar die Stadt übernehmen würde.»
Auch die Juristin Elham Saudi spürt die Polarisierung in ihrer Arbeit. «Wenn wir in einem Bericht die eine Seite kritisieren, dann wird uns vorgeworfen, Partei zu sein», sagt Saudi. «Doch in der Menschenrechtsarbeit geht es um Rechtsverletzungen. Das heisst nicht, dass wir beide Seiten gleichsetzen, aber wir wollen die Opfer schützen und uns für sie einsetzen, ohne dass wir in die politische Debatte hineingezogen werden.»
Saudi kritisiert die undifferenzierte Art, mit der Libyen sowohl in der internationalen Politik wie in den Medien häufig betrachtet werde. «Über Libyen wird immer entweder aus einem Antiterrorblickwinkel oder im Zusammenhang mit Migration gesprochen», sagt sie. «Um die Menschenrechte geht es kaum. Sie werden als ‹nice to have› gesehen», sagt sie. Bei einem Treffen vor ein paar Jahren mit VertreterInnen der Europäischen Union etwa habe man ihr gesagt, dass Gerechtigkeit im Moment nicht die Priorität sein könne – zuerst müsse der Konflikt gelöst werden.
Statt an nachhaltigen Lösungen für Libyen zu arbeiten, sei die Politik der internationalen Gemeinschaft kurzsichtig, sagt Saudi. Einzelne Staaten setzten auf Deals mit immer dubioseren Partnern: Italien unterstützt die libysche Küstenwache, die Flüchtlinge davon abhalten soll, sich auf den Weg übers Mittelmeer Richtung Europa zu machen. Frankreich wiederum, im Zuge seiner Antiterrorismuspolitik, steht hinter Haftar. Internationale Geldgeber, die zivilgesellschaftliche Projekte unterstützten, zogen sich ab 2014 zurück – weil sie Libyen als verlorenen Fall betrachteten. «Das sendet ein Signal, das nicht nur bei den Aktivisten ankommt», sagt Saudi, «sondern auch bei jenen, die an der Macht sind oder nach Macht streben.»
2019 starteten JournalistInnen in Tripolis die Aktion «Journalisten sind keine Terroristen» und kündigten an, die Pressekonferenzen der Regierung zu boykottieren, bis sich deren Haltung gegenüber den Medienschaffenden ändere. «Die Regierung schützt uns nicht», sagt Eman Ben Amer. «Wir wollen, dass unsere Arbeit respektiert wird.» Doch dann brach der Krieg in Tripolis aus – und die JournalistInnen stellten ihren Protest ein. «Wir haben weitergearbeitet. Wir wollten da sein für unser Land.»
* Korrigendum vom 17. Juni 2020: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion steht fälschlicherweise, dass die Libyan Cloud News Agency mit finanzieller Unterstützung durch die EU gegründet wurde. Richtig ist: Die Agentur selbst hat keine EU-Mittel erhalten, sondern finanziert sich über ihre Abonnenten. Im Vorfeld der Gründung gab es Trainings und Beratungen der Deutsche Welle Akademie, welche von der EU und dem deutschen Auswärtigen Amt finanziert wurden.