Alltagsrassismus: Spätabends in der S-Bahn
Der öffentliche Raum ist der häufigste Tatort von rassistischer Diskriminierung. Der Fall dreier kurdischer Frauen, die in der S-Bahn von einem Mann angegriffen wurden, ist ein Fall von vielen. Bei den meisten kommt es nicht einmal zu einer Anzeige.
Tatort S-Bahn: Am 8. Mai um 22.31 Uhr betreten drei kurdische Frauen im Zürcher Hauptbahnhof die S6 in Richtung Regensdorf. Fatos Cebir, Hülya Emec und eine Freundin, die anonym bleiben will, lassen sich im oberen Stock in einem Viererabteil nieder. Sie unterhalten sich auf Türkisch. Um 22.38 Uhr stoppt der Zug in Zürich Oerlikon. Ein Mann steigt zu, etwa Mitte vierzig, biertrinkend, aber gemäss Emec nicht betrunken.
Bereits im ersten Vorbeigehen wendet sich der Mann an die drei Freundinnen: «Ihr seid hier in der Schweiz, hier wird Deutsch gesprochen», sagt er in aggressivem Tonfall. Doch damit nicht genug. «Er bezeichnete uns als ‹Fotzen›», ergänzt Cebir. Der Mann geht weiter, pöbelt einen weiteren Fahrgast an. Auch dieser passt mit seiner dunkleren Haut offenbar nicht ins rassistische Bild einer weissen Schweiz: «Als wir das Abteil wechselten, wandte sich der Angreifer erneut uns zu. Er beleidigte uns rassistisch, warf uns arabische Floskeln entgegen, sagte ‹Inschallah› und dergleichen.»
Zögerliche Polizei
Als der Angreifer ein Foto der drei Frauen machen will, steht Cebir auf und versucht, ihn daran zu hindern. Nachdem sie einen Tritt gegen die Brust erhält, eilen die anderen herbei, um ihr zu helfen. Emec bekommt einiges ab, würde aber rückblickend wieder gleich handeln: «Wir mussten reagieren, weil wir in Gefahr waren. Ich handelte automatisch.» Nun werden auch andere Fahrgäste auf die Auseinandersetzung aufmerksam und schalten sich ein. Es entsteht ein Handgemenge. Die Betroffenen und andere Fahrgäste alarmieren die Polizei.
In Regensdorf verlassen die drei Frauen den Zug – und mit ihnen auch der Angreifer. Emec zückt ihr Smartphone, beginnt zu filmen. Auf dem Video, das der WOZ vorliegt, ist ein Mann zu sehen, der den Bahnhofsgang entlanggeht. Er hat einen Sack voll Bierdosen in der Hand und dreht sich zur Kamera. Dann bricht das Video ab. In der Folge sei er wütend auf Emec zugerannt und habe mit dem Sack auf sie eingeschlagen, erzählen die drei Frauen. Er trifft sie mit voller Wucht am Handgelenk, das Handy fällt auf den Boden. Der Angreifer sucht das Weite. Die drei Freundinnen nehmen den nächsten Bus und fahren nach Hause. Erst als sie dort angekommen sind, werden sie von der Polizei informiert, dass diese nun vor Ort sei – über eine halbe Stunde nach dem ersten Anruf.
Rückwirkend ist den drei Frauen wichtig zu betonen, dass es sich um einen rassistischen Angriff handelte: «Der Mann griff uns nicht nur physisch an, sondern allen voran unsere Identität als Nichtschweizerinnen – und als Frauen», sagt Cebir und fügt an, dass sie seither immer ein mulmiges Gefühl habe, wenn sie diese Strecke fahre. Die drei Frauen haben Anzeige eingereicht, fühlten sich aber von der Polizei nicht ernst genommen. Seitdem hätten sie keine Informationen mehr über den Stand der Dinge erhalten. Auch eine Anfrage der WOZ blieb mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen unbeantwortet.
352 gemeldete Fälle
Im kürzlich veröffentlichten Auswertungsbericht der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus wurden schweizweit 352 Fälle von Rassismus aufgeführt und ausgewertet. Es handelt sich dabei aber nur um Fälle, die bei einer der 22 Beratungsstellen für Rassismusopfer gemeldet wurden. Der öffentliche Raum und damit auch der öffentliche Verkehr sind gemäss dem Bericht am häufigsten Tatort von rassistischer Diskriminierung – das meistgenannte Motiv mit 145 Einträgen war AusländerInnen- respektive «Fremdenfeindlichkeit». Die Dunkelziffer dürfte riesig sein: «Die Hemmschwelle, einen rassistischen oder fremdenfeindlichen Vorfall einer Beratungsstelle, NGO oder der Polizei zu melden, bleibt bestehen», bemerkt die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus mit Blick auf das vergangene Jahr. Die meisten Vorfälle werden gar nie erfasst.
Dominic Pugatsch, Geschäftsleiter der Stiftung, sagt dazu: «Wir brauchen einen Perspektivenwechsel hin zu einem Klima, das Rassismusbetroffene ermutigt, über ihre Erfahrungen zu berichten. Das bedingt eine Debatte, der die Wirkung von Rassismus bei Betroffenen ins Zentrum stellt – und nicht, was es bedeutet, wenn jemand rassistische Wörter nicht mehr sagen darf.» Um rassistische Vorfälle in Zukunft wenn möglich zu verhindern, brauche es vertiefte Aufklärung und den Willen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Das sei nötig, um mögliche Handlungsoptionen zu erlernen, betont Pugatsch: «Was wir mehr brauchen, ist aktive Solidarität im Alltag – bei rassistischer Gewalt oder alltäglicher Diskriminierung.»
«Rassismus wird in der Schweiz verharmlost und verdrängt. Die Schweiz hat diesbezüglich einen blinden Fleck», schrieb kürzlich das Institut Neue Schweiz (Ines), ein gesellschaftspolitischer «Thinktank mit Migrationsvordergrund», in einem Beitrag. Das zeigt auch die Erfahrung der drei kurdischen Frauen: «Es geht nicht nur um diesen Mann, der uns angegriffen hat. Es sind auch die gesellschaftliche Stille und die Rolle der Polizei, die diesen Angriff möglich gemacht haben.»