Grundrechte: War Tell ein Terrorist?

Nr. 26 –

Was sich vergangene Woche in den schmucklosen Hallen der Bernexpo abspielte, war ein eigentlicher Skandal. Alle Einwände hatten nichts genützt – weder die dringlichen Warnungen von Uno-ExpertInnen und dem Europarat noch die Kritik renommierter JuristInnen und Menschenrechtsorganisationen. Im Irrglauben, durch die Einschränkung von Freiheit werde Sicherheit geschaffen, hiess die bürgerliche Mehrheit im Nationalrat geschlossen ein umfassendes Antiterrorpaket gut: zwei Gesetze, die in Teilen völkerrechtswidrig sind und die Grundrechte mit Füssen treten.

Da ist zum einen die Verschärfung des Strafrechts. Eigentlich wäre es bloss darum gegangen, dieses an die Weisungen des Europarats anzupassen. Das neue Gesetz geht allerdings deutlich darüber hinaus: Nicht nur sollen in Zukunft mehrere neue Tatbestände unter Strafe stehen, auch werden die kantonalen Gerichte darüber entscheiden, welche Organisation in welchem Kanton überhaupt als «terroristisch» gelten soll.

Mit diesem Gesetz schafft sich die Schweiz ihren eigenen Terrorismusparagrafen und überträgt die Hoheit über dessen Ausgestaltung der Judikative. Dabei ist «Terrorismus» weder nach internationalem Recht klar geregelt, noch handelt es sich dabei überhaupt um eine juristische Frage. Vielmehr ist, was als «terroristisch» gilt, ein Ausdruck des Zeitgeists. «War Wilhelm Tell ein Freiheitskämpfer oder ein Terrorist? Die Habsburger würden das wohl anders beantworten, als das vielleicht jene tun, die jetzt den Terrorismus besonders hart bekämpfen», fasste SP-Nationalrätin Min Li Marti das zugrunde liegende Dilemma in der Ratsdebatte treffend zusammen.

Und dann wären zum andern noch die präventiven Massnahmen gegen sogenannte GefährderInnen. Auch hier beginnt das Problem schon bei den Begrifflichkeiten. Reicht schon der Gedanke an eine Straftat aus, um eine Person zu überwachen? Kann eine Äusserung Hausarrest zur Folge haben? Wer gefährlich ist, bleibt unklar – und in Zukunft dem Ermessen der Sicherheitsbehörden überlassen.

Willkürlich ist auch die Definition einer «terroristischen Aktivität», die «GefährderInnen» begehen könnten. Als solche gelten «Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung», die mit der «Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden». Wen auch immer die ParlamentarierInnen im Sinn hatten, als sie dem neuen Paket zustimmten – von diesem Polizeigesetz sind potenziell alle betroffen.

Damit reiht sich die Schweiz in einen internationalen Trend ein: Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 wurden im «Kampf gegen den Terror» von Washington über London und Paris bis Bern die Sicherheitsgesetze verschärft. Die bundesrätliche Antiterrorstrategie basiert auf dem Nachrichtendienstgesetz aus dem Jahr 2017, dem «Nationalen Aktionsplan gegen Radikalisierung und Extremismus» – und den beiden neuen Gesetzen. Dass deren GegnerInnen chancenlos blieben, dürfte besonders Justizministerin Karin Keller-Sutter gefreut haben, die sich einmal mehr als «Law and Order»-Hardlinerin profilieren konnte.

Im Antiterrorkampf, das hat die letzte Woche aufs Neue gezeigt, bleiben die Grundrechte auf der Strecke. Zunehmend greift dabei eine, so der deutsche Journalist und Jurist Heribert Prantl, «expansive» Logik um sich: «Wer vorbeugen will, weiss nie genug. Deshalb wird der Staat, im Namen der Sicherheit, immer mehr in Erfahrung bringen wollen – und immer weiter in die Intimsphäre eindringen, um am Tatort zu sein, bevor der Täter da ist, um einzugreifen, bevor aus dem Gedanken die Tat geworden ist, ja schon bevor der Gedanke daran manifest geworden ist.» Präventiv ist also nie präventiv genug.

Das Geschäft der TerroristInnen ist das Schüren von Angst – doch wer Angst hat, trifft selten gute Entscheidungen. Und wer im Bestreben um Sicherheit die Freiheit Einzelner einschränkt, hat das Feld ohnehin längst jenen überlassen, die die Freiheit im Grundsatz ablehnen. Der nationalrätliche Beschluss bedeutet deshalb vor allem eins: dass sich eine Mehrheit ihr Handeln von TerroristInnen bestimmen liess.