Fotografie: Die Bilder schauen auf uns zurück
Eine Ausstellungsreihe im Fotomuseum Winterthur beleuchtet die Folgen der Digitalisierung in der Fotografie. Aktuell geht es um die Frage, wie unsere Blicke von Machtstrukturen gelenkt werden – und wie Bilder die Machtverhältnisse durcheinanderbringen können.
Wir sehen unsere eigene Perspektive gern als objektiv, als universell. Instinktiv projizieren wir sie auf andere Lebensrealitäten, die wir beobachten und bewerten. Doch ist unser Standpunkt tatsächlich so einzigartig und selbstverständlich, wie wir glauben? Diesem Komplex widmet sich die Ausstellung «The Right to Look» in der Reihe «Situations» im Fotomuseum Winterthur. Anhand künstlerischer und recherchebasierter Arbeiten macht sie sichtbar, welche Dynamiken unseren Blick lenken.
Was wäre, wenn wir woanders geboren wären? Welchen Lauf hätte unser Leben wohl genommen? Solche Fragen umkreisen Baltensperger + Siepert in ihrer Videoarbeit «No-Real-Body», die sie mit dem Drehbuchautor Uwe Lützen realisiert haben. Sie besteht aus drei Filmen, die von drei lokalen Teams aus unterschiedlichen Weltgegenden umgesetzt wurden: Myanmar, Nigeria und Gaza. Alle erhielten dasselbe Drehbuch: «Zwei Kunstschaffende arbeiten an einem Projekt und setzen sich dabei mit essenziellen Themen ihrer Zeit auseinander», hiess es darin. Was «essenzielle Themen ihrer Zeit» bedeutet, blieb der Interpretation der einzelnen Filmteams überlassen.
Die entstandenen Filme werden nun im Fotomuseum in einer begehbaren Installation auf drei Leinwände projiziert. Diese sind als Dreieck angeordnet, sodass man nur einen Film aufs Mal betrachten kann – zugleich aber hört man die Tonspuren der beiden anderen filmischen Erzählungen. Dadurch wird man unweigerlich darauf zurückgeworfen, dass es nicht nur eine Lebensrealität gibt: nicht nur die in Gaza, nicht nur die in Myanmar oder in Nigeria und nicht nur die eigene. Mit dieser Gegenüberstellung führen Baltensperger + Siepert auch die politischen und gesellschaftlichen Umstände vor Augen, die die jeweiligen Realitäten formen. Dabei lassen sich nicht nur Unterschiede, sondern auch Gemeinsamkeiten entdecken.
Kondome statt Windeln
In einer Szene begegnen die nigerianischen Protagonistinnen einem Werbeplakat, auf dem ein Mann mit einem Kind im Tragetuch abgebildet ist. Der Slogan «Condoms are way cheaper than diapers» (Kondome sind viel billiger als Windeln) veranlasst sie, über patriarchal geprägte Muster zu sprechen: über Rollenbilder, in denen es für manche Männer undenkbar bleibt, väterliche Pflichten zu übernehmen. Und genau in diesem Moment betrachten wir nicht nur, sondern werden unweigerlich dazu gebracht, den Blick auch auf uns selbst zu richten: Sind es nicht ähnliche Denkstrukturen, die unsere Wahrnehmung und damit unseren Alltag prägen? Können wir dem Fremden nicht etwas Vertrautes abgewinnen?
Neben dem eigenen Wertesystem beeinflusst auch das fotografische Bild unsere Realität. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Digitalisierung, die in der Fotografie seit den nuller Jahren in grossem Ausmass Einzug gehalten hat. Mit dem 2015 lancierten Ausstellungsformat «Situations» widmet sich das Fotomuseum dieser Entwicklung, die auch unter dem Begriff «Postfotografie» diskutiert wird. Das Format verdeutlicht, wie Fotografie nicht mehr hauptsächlich auf analogen Abzügen basiert, sondern digital produziert und reproduziert wird, wobei die AutorInnenschaft nicht mehr allein beim Menschen liegt. Die Ausstellung «Posthuman» (2018) etwa verhandelte dieses Thema mit maschinellen Aufnahmen von Satelliten und Überwachungskameras.
Digitale Schlaglichter
In jeder neuen Ausstellung werden künstlerische Arbeiten mit virulenten Fragestellungen und internen Recherchen kombiniert, aktuell etwa im Video «networked feminism». Dieses verdeutlicht, wie Bilder sich heute explosionsartig verbreiten, wenn sie mit dem Smartphone aufgenommen und unmittelbar nach ihrer Entstehung ins Netz gestellt werden. Was solche «vernetzten» Bilder auszulösen vermögen, zeigten kürzlich auch die Proteste nach der Ermordung von George Floyd. In «networked feminism» sind Videos zu sehen, die sich viral verbreiteten – darunter Aufnahmen der feministischen Proteste in Chile, die 2019 durch das Kollektiv Las Tesis initiiert wurden, oder Donald Trump mit seinem Spruch «Grab ’em by the pussy», der die #MeToo-Bewegung befeuerte. Diese viralen Bilder legen nicht nur Machtstrukturen offen, die sexuelle Gewalt legitimieren, sondern sie zeigen auch schlaglichtartig auf, wie tief Frauenverachtung in unserer Gesellschaft verankert ist.
Doch in gleichem Mass, wie Bilder Missstände sichtbar machen und Machtverhältnisse entlarven, können sie diese auch perpetuieren. Dies verdeutlicht das Werbeplakat, dem die Protagonistinnen in Lagos begegnen: Hinterfragen wir solche Bilder nicht bewusst, prägen sie unsere Sehgewohnheiten und Realitäten oft weiter. Wir können solche Bilder also anschauen, passiv annehmen – oder uns vielmehr selbst durch das Bild hindurch betrachten und fragen: Durch welche Schablonen sehen wir unsere Realität?
«The Right to Look» ist noch bis zum 18. Oktober 2020 zu sehen. Alle vergangenen «Situations» können online eingesehen werden: www.fotomuseum.ch.