Impfobligatorium: Die Angst vor der «Spritzendiktatur»
Noch gibt es keinen Impfstoff gegen Covid-19. Doch das hindert Impfgegnerinnen und Coronaskeptiker nicht daran, jetzt schon gegen einen angeblichen Impfzwang zu polemisieren.
Auf den Satz haben sie gewartet. Er findet sich im Bericht, den der Bundesrat mit in die Vernehmlassung zum vorgesehenen Covid-19-Gesetz geschickt hat: Dort heisst es weit hinten, dass der Bundesrat zur Bekämpfung des Coronavirus auch «Impfungen für obligatorisch erklären» kann.
Für Coronaskeptiker und Impfgegnerinnen ist das eine Steilvorlage. Von «Impfzwang» schreiben sie. Sie haben eine Petition lanciert und bereiten bereits ein Referendum vor. Die Emotionen in den sozialen Medien gehen hoch. Für die künftigen Mitglieder des Referendumskomitees ist der Satz die Chance, auf nationaler Ebene an Bedeutung zu gewinnen. Für ihre Organisationen verspricht das Mitglieder und Spenden.
Richard Koller ist einer von ihnen. Der 59-jährige gelernte Krankenpfleger war Sekretär der Luzerner SVP, bis er 2017 nach einem internen Streit entlassen wurde. Daraufhin gründete er die Freiheitliche Bewegung Schweiz, die er nun als Kampagnenvehikel braucht: gegen den Mobilfunkstandard 5G, die Klimawissenschaft, die Coronamassnahmen des Bundes. Zum Thema Impfen hat er flugs eine Petition verfasst, die laut eigenen Angaben innert elf Tagen bereits 41 000 Leute unterschrieben haben. «Der Stab des Bundeshauses und der Bundesrat ist in seiner Inkompetenz nicht zu überbieten», heisst es darin. «Und jetzt wollen diese per Bundesgesetz die Macht als Diktator, um uns unter Zwang zu impfen.» Die Petition bringt Koller neue Adressen für ein Referendum. «Ich bin nicht grundsätzlich gegen Impfungen», sagt er. Es gehe ihm um das Recht auf «körperliche Unversehrtheit».
Auch Daniel Trappitsch mobilisiert bereits. Der 55-jährige St. Galler zählt mit seinem «Netzwerk Impfentscheid» zu den profiliertesten ImpfgegnerInnen der Schweiz. Bereits 2013 war er am Referendum gegen das Epidemiengesetz beteiligt, in dem die bereits damals geschaffene Möglichkeit eines Impfobligatoriums angeprangert wurde. Das Gesetz wurde mit sechzig Prozent der Stimmen angenommen. «Impfentscheid» schreibt zum Covid-19-Gesetz von «paranoider Coronahysterie».
Bussen sind möglich
«Impfen hat schon immer Abwehr bei einem Teil der Bevölkerung hervorgerufen», sagt Rechtsprofessor Lorenz Langer, der die Impfgeschichte aufgearbeitet hat. «Schon bei den ersten Pockenimpfungen gab es Proteste.» Bundesrat Alain Berset versuchte schon im Abstimmungskampf zum Epidemiengesetz, zu beschwichtigen: Impfobligatorien würden nur bei grosser Gefahr für die Bevölkerung erlassen. Niemand würde gezwungen, sich zu impfen. Die Bundesverfassung sieht ein Recht auf körperliche Unversehrtheit vor. Bussen seien allerdings nicht ausgeschlossen, sagt Langer.
Yvonne Gilli, Mitglied des Zentralvorstands beim Ärzteverband FMH, ist in Sachen Impfung eigentlich auf der skeptischen Seite. Die Ärztin und frühere grüne Nationalrätin unterstützte 2013 das Referendum gegen das Epidemiengesetz. Doch von der jetzigen Diskussion hält sie nichts. «Man sollte die Polemik rausnehmen», sagt sie. Noch sei völlig unklar, ob und wann ein wirksamer Impfstoff auf den Markt komme. Dann stelle sich primär die Frage, ob genügend Impfdosen für gefährdete Personen erhältlich seien.
Skeptisches Gesundheitspersonal
Falls der Bundesrat überhaupt ein Impfobligatorium in Sachen Corona beschliessen würde, so würde er sich wohl auf bestimmte Personengruppen wie das Gesundheitspersonal beschränken. Was das genau für das Personal bedeutet, ist offen. Berset sagte 2013, dass niemand entlassen werde, der sich nicht impfen lasse. Beim Spitalpersonal sind Impfungen – etwa gegen Grippe – umstritten. «Man soll nicht einfach die Leute stigmatisieren, die nicht impfen wollen. Die Personalführung und Wertschätzung spielen eine zentrale Rolle», sagt Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des Schweizerischen Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner. Falls etwa im Herbst eine zweite Covid-19-Welle die Schweiz erfasse und gleichzeitig eine Grippe wüte, werde sich die Frage nach einem Impfobligatorium aufdrängen. «Es ist ein kontroverses Thema, das auf uns zukommt», sagt sie. Man werde anhand der Fakten entscheiden müssen.
Das ist auch die Position der Gewerkschaft VPOD. Die zuständige Zentralsekretärin Elvira Wiegers beharrt noch auf einem anderen Punkt: «Wichtig wäre es, zuerst die Arbeitsbedingungen des Personals zu verbessern.» Ohne solche Verbesserungen würde ein Impfobligatorium vielen Beschäftigten umso saurer aufstossen.