Polizeigewalt in den USA: Der schwierige Schritt in die Realpolitik

Nr. 28 –

Was fordern, wenn plötzlich Gehör da ist? In New York erreichten Protestierende immerhin, dass das Budget der grössten Polizeibehörde der USA gekürzt wurde. Gleichzeitig haben sich strategische Gräben aufgetan.

Im Sommer 1975 zirkulierte ein Flyer in New York City, der eine kleine politische Krise auslöste. «Welcome to Fear City» (Willkommen in der Stadt der Angst) stand in Versalien auf dem Vorderblatt, darunter ein Totenkopf. Auf drei Seiten wurden Ratschläge erteilt, wie sich TouristInnen vor Raubüberfällen schützen können. Halten Sie sich nach 18 Uhr von den Strassen fern, gehen Sie nicht zu Fuss, meiden Sie öffentliche Verkehrsmittel. Und bleiben Sie bloss in Manhattan! Hinter der Aktion steckte eine mächtige Koalition aus Polizei- und Feuerwehrgewerkschaften, die sich gegen die vom Bürgermeister geplanten Personalkürzungen im Bereich der öffentlichen Sicherheit stellte. Je weniger Beamte auf der Strasse, desto gefährlicher die Stadt, lautete die Botschaft.

Seit einigen Wochen nun kursiert wieder ein Flyer in New York, wieder steht «Welcome to Fear City» vorne drauf, wieder ein grosser Totenkopf und wieder eine Liste von Anweisungen. Im Sommer 2020 trägt der Schädel allerdings eine Mütze mit den Buchstaben ACAB: All Cops Are Bastards. Und gewarnt wird nicht von der Polizei, sondern vor der Polizei. AktivistInnen haben Informationen zusammengetragen, wie man sich bei Demonstrationen gegen Übergriffe der BeamtInnen wehren könne. «Während wir gegen Gewalt protestieren, empfängt uns die Polizei genau damit», heisst es im Text.

Gar nicht so unmissverständlich

Wessen Ängste werden erzählt? Wessen Ängste werden überhaupt wahrgenommen? Und für wen gilt das, was wir öffentliche Sicherheit nennen? Die Vorzeichen haben sich bezüglich solcher Fragen verändert, nicht nur in New York, sondern im ganzen Land. Seit Ende Mai, seit dem Mord am Schwarzen George Floyd durch einen weissen Polizisten in Minneapolis, ist ein Aufstand gegen Rassismus und Polizeigewalt in Gang, der innerhalb kurzer Zeit so viel verschoben hat, dass selbst Grössen der Bürgerrechtsbewegung wie Angela Davis staunen.

Anders als in den sechziger Jahren und anders auch, als die Black-Lives-Matter-Bewegung vor sechs, sieben Jahren ihren Anfang nahm, ist der aktuelle Mainstreamdiskurs nicht von Diskussionen um bessere Polizeiausbildung, mehr Diversität in den Dienststellen und Bodycams bestimmt, sondern um eine entscheidende Forderung erweitert worden: um jene nach einem Abbau der Polizei. Jahrzehnte der Basisarbeit haben ihre Spuren hinterlassen, der Resonanzraum hat sich innerhalb kurzer Zeit geöffnet, und zwar nach links. Je weniger Beamte auf der Strasse, davon scheinen immer mehr US-AmerikanerInnen überzeugt, desto sicherer die Gesellschaft.

Immer deutlicher wird allerdings auch, dass die Parole «Defund the police» höchstens auf Plakaten und als Hashtag unmissverständlich ist. Innerhalb der Black-Lives-Matter-Bewegung wird indes gestritten, was Defunding genau bedeutet, und vor allem, wie die Ziele politisch erreicht werden können.

Die einen wollen die Proteste so schnell wie möglich in konkrete, wenn auch kleine, Ergebnisse umgesetzt sehen, sprich in Reformen bei der Polizei. Die anderen setzen auf die Fortsetzung der Konfrontation, physisch wie rhetorisch, um so der drohenden Erschlaffung durch realpolitische Logik zu entgehen. Viele AktivistInnen bewegen sich zwischen den Ansätzen, die Fraktionen sind alles andere als streng voneinander getrennt. Und dennoch scheint hier eine der zentralen Spannungen zu liegen: Wie sehr kann, wie sehr sollte die Black-Lives-Matter-Bewegung darauf hoffen, dass ihre Ziele in Parlamenten verwirklicht werden? Und wenn nicht dort, wo dann?

Immer unbeliebterer Bürgermeister

In New York, der Stadt mit der grössten Polizeibehörde der USA (NYPD), konnte man diesen Spannungen in den vergangenen zwei Wochen bei der Entwicklung zusehen. Am 23. Juni nahmen rund hundert Leute, angeführt von Schwarzen AktivistInnen, den Platz vor dem Rathaus in Manhattan in Beschlag. Viele junge StudentInnen waren dabei, einige erfahrene Figuren von Occupy Wall Street. Innerhalb weniger Tage wuchs ein kleines Dorf, bewacht von PolizistInnen. Fast rund um die Uhr gab es warmes Essen, Obdachlose wurden eingeladen, etliche Workshops abgehalten, und eine Bibliothek wurde eingerichtet. Occupy City Hall wurde zum Dreh- und Angelpunkt der New Yorker Proteste.

Nur eine Woche blieb den AktivistInnen, um den Stadtrat davon zu überzeugen, dem NYPD mit seinen 36 000 BeamtInnen das Budget von zuletzt sechs Milliarden US-Dollar fürs kommende Jahr um mindestens eine Milliarde zu kürzen. Viele verlangten mehr. In der Nacht zum 1. Juli verkündete der Rat schliesslich, dass dem NYPD zwar künftig weniger Geld zu Verfügung stehe, die Zahl der BeamtInnen aber nur minimal reduziert werde. Der immer unbeliebtere demokratische Bürgermeister Bill de Blasio feierte diese Nichtlösung als erfolgreichen Mittelweg. Letztlich wurde aber nicht einmal die Minimalforderung der BesetzerInnen erfüllt.

Und jetzt? Viele AktivistInnen sehen sich in der Auffassung bestätigt, Forderungen radikaler artikulieren zu müssen, damit sich die Politik nicht in vermeintliche Kompromisse retten kann. Die OrganisatorInnen von Occupy City Hall haben sich entschieden, die Energie zurück auf die Basisarbeit in den Communitys zu lenken, die Besetzung vor dem Rathaus geht jedoch weiter. Genau wie die Demonstrationen gegen Rassismus, die fast jeden Tag stattfinden. Und genau wie die Diskussionen über Mittel und Zweck der Proteste.