Polizeigewalt in den USA: «Ein Hauch von Gerechtigkeit»
Der weisse Polizist Derek Chauvin wurde letzte Woche wegen Mordes am Afroamerikaner George Floyd verurteilt. Doch weiterhin kommen in den USA drei Menschen am Tag durch Polizeigewalt ums Leben, mehrheitlich People of Color. Sieben Schwarze Stimmen zur Bedeutung des Urteils und zu den nächsten Schritten im Kampf gegen den institutionellen Rassismus.
Al Sharpton (66)
Bürgerrechtskämpfer, Kirchenmann und Politiker
«Im Dezember 1986 wurde in Queens, New York, ein junger Mann namens Michael Griffith getötet. Die Täter sagten, sie duldeten keine Schwarzen in ihrer Gegend. Einige von uns gingen aus Protest auf die Strasse, und ein Bruder schrie: ‹No justice, no peace› (Keine Gerechtigkeit, kein Frieden). Der Kampfruf einer Bewegung war geboren.
Bereits in der Bibel steht: Wo Ungerechtigkeit praktiziert wird, kann es keinen Frieden geben. Doch dieses Land kann Frieden und Ruhe nicht unterscheiden. Man sagt uns, wir sollen das Maul halten und ruhig bleiben. Das nennen sie dann ‹Frieden›. Doch Frieden ist gegenwärtige Gerechtigkeit.
Man kann nicht am Sonntagmorgen in die Kirche gehen und dann nicht gegen die Unterdrückung kämpfen. Gott ist nicht auf der Seite der Unterdrücker. Gott ist auf der Seite der Unterdrückten. Gott hat im US-Bundesstaat Minnesota das Blatt gewendet, und wir werden nicht mehr zurückweichen. Wir mögen verschiedene Taktiken haben, aber wir haben dasselbe Ziel. Wir sind alle StrassenaktivistInnen, wir alle kämpfen für unser Bürgerrecht.»
Aus der Abdankungsrede vom 22. April für den zwanzigjährigen Afroamerikaner Daunte Wright, der am 11. April bei einer Verkehrskontrolle erschossen wurde.
Regina King (50)
Schauspielerin und Regisseurin des Films «One Night in Miami» (2020)
«Wir trauern um so viele. Und ehrlich gesagt, wenn es in Minneapolis anders rausgekommen wäre, hätte ich meine High Heels gegen Marschstiefel eingetauscht.
Ich weiss, dass viele von euch ZuschauerInnen zur Fernbedienung greifen, wenn ihr denkt, Hollywood fange an zu predigen, doch als Mutter eines Schwarzen Sohnes kenne ich die Angst, mit der so viele leben müssen. Weder Ruhm noch Reichtum können daran etwas ändern, okay?»
Aus der Eröffnungsrede der diesjährigen Oscarverleihung, 25. April.
Jody Armour (61)
Rechtsprofessor an der University of Southern California
«Im Fall von George Floyd haben das Schwarze Amerika und das Geschworenengericht in Minneapolis die Wirklichkeit für einmal gleich wahrgenommen. Doch die Tatsache, dass wir deswegen so erleichtert sind, ist an sich schon eine Anklage gegen das System.
Die einzige Chance, weitere solche ‹Unfälle› und Tragödien zu reduzieren, besteht darin, die Begegnungen selbst zu reduzieren. Entwirrt die Polizeiaufgaben, hört auf mit den polizeilichen Verkehrskontrollen, vermeidet so viele Konfrontationen von mit Gewehren und Tasern, Knüppeln, Pfefferspray und Handschellen bewaffneten PolizistInnen mit stereotypisierten Personen und Gruppen wie möglich.
Wir können nun ein wenig aufatmen. Doch für mich ist Gerechtigkeit mehr als das Vermeiden eines katastrophalen Justizirrtums.»
Aus dem Podcast «Start Making Sense» von «The Nation», 22. April. Armour ist Autor von «N*gga Theory. Race, Language, Unequal Justice, and the Law» (2020).
Ibram X. Kendi (38)
Aktivist, Autor von «How to be an Anti-Racist» (2019), Direktor des Center for Antiracist Research an der Boston University
«Leute aus der politischen Mitte und sogar viele Linken verurteilten Trumps Mauer, die die ‹Bestien›, die ‹Kriminellen› und ‹Vergewaltiger› aus den ‹Scheissländern› abhalten sollte. Doch nun sind sie in ihrer Scheinheiligkeit dagegen, auch die Mauer im Innern der USA, den Polizeistaat, abzubauen, von dem sie glauben, er beschütze sie vor den Tieren und Superverbrechern und Sexualstraftätern of Color. In ihrer diffusen Angst bilden sie sich ein, dass bewaffnete Truppen, mächtige Staatsanwälte und Gefängnisse die Kriminalität irgendwie besser verhindern und kontrollieren können als Jobs, Ressourcen und Chancen für Leute, die bisher benachteiligt waren. In ihrer Angst meinen sie, dass Polizeigewalt durch einen Mangel an Einsicht und Kooperation verursacht wird, statt sie als gewaltbereiten Sprössling der amerikanischen Sklaverei zu begreifen.
Wann werden die US-AmerikanerInnen einsehen, was die Handyvideos ihnen zeigen, was die Body-Cams der Polizei aufnehmen, was die gleiche alte Geschichte immer wieder lehrt? Der Widerstand der Schwarzen und Braunen Menschen ist nicht das Problem. Unsere Gefügigkeit ist nicht die Lösung.
Wenn wir Widerstand leisten, sterben wir wie Daunte Wright. Wenn wir es nicht tun, sterben wir wie Adam Toledo [Dreizehnjähriger, der Ende März in Chicago mit erhobenen Händen von der Polizei erschossen wurde, Anm. d. Red.].
Der Widerstand der Polizei, unsere Menschlichkeit anzuerkennen, ist das Problem. Der Widerstand der USA, uns ein Recht auf Leben zuzugestehen, ist das Problem. Politische Einsicht – die Polizei, wie wir sie kennen, abzuschaffen –, das ist die Lösung.»
Aus dem Essay «Compliance Will Not Save Me» in «The Atlantic» vom 19. April.
Donna Murch
Historikerin an der Rutgers University mit Schwerpunkt Masseninhaftierung, Black Power und Bürgerrechte
«Die Black-Lives-Matter-Bewegung und die Dachorganisation Movement for Black Lives haben eine Infrastruktur aufgebaut, dank der zwischen 16 und 25 Millionen Menschen auf die Strasse gingen, um gegen die Staatsgewalt zu protestieren, gegen das Töten und Foltern von Schwarzen Menschen im Rechtsvollzug. Dem ist zu verdanken, dass die Kultur der Straflosigkeit für weisse PolizistInnen einen entscheidenden Schlag erlitten hat.
Wie viel das George-Floyd-Urteil bewirkt, wird sich an strukturellen Reformen zeigen, wie dem Zurückfahren der Masseninhaftierungen, der Aufhebung des Three Strikes Law [eines Gesetzes, nach dem bei der dritten Verurteilung wegen einer Straftat automatisch eine besonders schwere Strafe ausgesprochen wird, Anm. d. Red.] und dem Rauswurf der Polizeigewerkschaften aus dem Dachverband. Auch sollten PolizistInnen, die Leute töten, strafrechtlich und zivilrechtlich haftbar sein, damit Stadtverwaltungen nicht mehr gezwungen sind, für diese Taten Entschädigung zu zahlen, mit Mitteln, die dringend für soziale Dienste benötigt würden.»
Aus Murchs Stellungnahme zum George-Floyd-Urteil.
Keeanga-Yamahtta Taylor
Journalistin, Aktivistin und Assistenzprofessorin für African American Studies an der Princeton University
«Was heute in den USA passiert, hat eine reale Chance, das Land zu verändern. Zwar erinnern die heutigen Proteste an frühere erfolglose Versuche, dem Rassismus und der Polizei die Stirn zu bieten. Doch sind sie mehr als das. Anders als im 1992er-Aufstand von Los Angeles, als koreanische Geschäfte angegriffen und weisse PassantInnen verprügelt wurden, anders als bei der 1960er-Rebellion, die vor allem auf Schwarze Wohnviertel konzentriert war, sind die heutigen Proteste einzigartig in ihrer ethnischen Solidarität.
Junge Weisse gehen heute nicht mehr bloss wegen ihrer eigenen Ängste vor der Unbeständigkeit dieses Landes und wegen ihrer eigenen gefährdeten Zukunft auf die Strasse. Sie tun es auch aus Abscheu vor dem Machtanspruch der Weissen und der Unmoral des Rassismus. Ihre Perspektive wurde durch die Politik von Black Lives Matter geprägt. Diese Bewegung sieht den Rassismus nicht mehr als ein zwischenmenschliches Problem oder als eine Einstellungssache. Sie hat begriffen, dass Rassismus tief in den nationalen Institutionen und Organisationen verwurzelt ist.
Was heute passiert, ist weit mehr als ein wiederaufbereiteter Protest der Vergangenheit.»
Aus dem Essay «How Do We Change America?» im «New Yorker» vom 8. Juni 2020.
Melina Abdullah (48)
Mitbegründerin der Black-Lives-Matter-Ortsgruppe Los Angeles, Professorin für Pan-African Studies an der California State University
«Wir feiern heute unsere kollektive Stärke. Wir feiern, dass wir ein kriminelles Rechtssystem gezwungen haben, uns zu sehen und zu fürchten. Im Namen von George Floyd haben wir einen Hauch von Gerechtigkeit errungen.
Doch während wir, erleichtert über das Urteil in Minneapolis, aufatmeten, wurde Ma’Khia Bryant in Columbus, Ohio, von der Polizei getötet. Bis das ganze System umgekrempelt und neu erdacht wird, kann dieses Urteil bloss ein erster Schritt und kein Sieg sein.
Wir wollen dem ungerechten System Mittel entziehen. Wir wollen unser Geld zurückhaben. Und wir wollen es in Dinge investieren, die unsere Community auch wirklich sicher machen. Wir wollen die Polizei aus Bereichen abziehen, in denen sie unserer Meinung nach nichts zu suchen hat. Wir wollen der Polizei den Geldhahn zudrehen: Defund the Police. Jedes Budget ist auch ein moralisches und ethisches Dokument.
Habt keine Angst davor, es auszusprechen: Schafft die Polizei ab!»
Aus einer Ansprache an der Black-Lives-Matter-Kundgebung vom 21. April vor dem Haus des demokratischen Bürgermeisters von Los Angeles, der unlängst das Polizeibudget erhöhte.