Polizeigewalt in den USA: Immerhin lokale Lichtblicke
Der Tod des Afroamerikaners Tyre Nichols erschüttert die USA – und verleiht der Diskussion über die Brutalität der Polizei neuen Auftrieb. Doch welche Fortschritte wurden seit den grossen Black-Lives-Matter-Protesten erzielt?
Die USA diskutieren einen neuen Fall tödlicher Polizeigewalt: In Memphis, Tennessee, hatten am 7. Januar mehrere Beamte den 29-jährigen Afroamerikaner Tyre Nichols nach einer Verkehrskontrolle zusammengeschlagen sowie Pfefferspray und Elektroschocker eingesetzt. Nichols, der während der Festnahme gewaltlos blieb, starb wenige Tage später im Spital an seinen Verletzungen.
Die involvierten Polizisten sind inzwischen suspendiert und wegen Totschlags angeklagt. Auch drei Rettungskräfte wurden wegen unterlassener Hilfeleistung am Tatort entlassen. Nachdem Ende Januar Videoaufnahmen der brutalen Festnahme publik geworden waren, kam es an etlichen Orten des Landes zu Protesten.
Der Fall Nichols ist nicht zuletzt deshalb erschütternd, weil er zur Normalität gehört. Die US-Polizei tötete im Jahr 2022 insgesamt 1186 Menschen, also im Durchschnitt 100 pro Monat. Überproportional betroffen sind arme und Schwarze Menschen. Nur die wenigsten Fälle bekommen öffentliche Aufmerksamkeit, die meisten bleiben rechtlich ohne Folgen.
Im Polizei- und Gefängnissystem der USA – historisch geschaffen, um Sklav:innenaufstände zu unterdrücken, die Arbeiter:innenklasse zu kontrollieren und kapitalistisches Eigentum zu schützen – zeigen sich immer wieder die Prioritäten des Staates: Statt soziale Infrastrukturen und universelle Programme aufzubauen, mit denen Kriminalität präventiv entgegengewirkt werden könnte, werden die Symptome sozialer Ungerechtigkeiten repressiv behandelt.
Das Strafsystem obsolet machen
Trotz der anhaltenden Gewalt lassen sich in den USA allerdings auch Veränderungen feststellen. Mit dem Entstehen der Black-Lives-Matter-Bewegung im Jahr 2013 und vor allem seit den massenhaften und eruptiven Protesten nach dem Mord an George Floyd in Minneapolis im Sommer 2020 werden die Rufe nach radikalen Reformen des Strafsystems immer lauter. Viele linke Aktivist:innen fordern nicht nur eine Verbesserung oder «Professionalisierung» der Polizeipraktiken, sondern den Abbau der ganzen Institution. «Defund the police» ist der dazugehörige Slogan, der der abolitionistischen Bewegung entspringt.
Anders als beispielsweise die Black Panthers, die in den sechziger Jahren forderten, die Polizei in die Hände der eigenen Community zu geben, ist das Ziel der heutigen Schwarzen linken Bewegung, den Kontakt zwischen Bürger:innen und Polizei sukzessive zu reduzieren und das jetzige Strafsystem durch einen emanzipatorischen Umbau der Gesellschaft letztlich obsolet zu machen. Solche Stimmen sind zwar noch immer in der Minderheit. Wie stark sich der Diskurs allerdings verändert hat, erkennt man schon daran, dass inzwischen selbst konservative Institutionen Reformen befürworten.
«Breathe Act» nicht umgesetzt
Visionäre Ziele und progressive Rhetorik sind das eine, Machtverhältnisse das andere. Was also wurde in den vergangenen Jahren konkret umgesetzt? Die kurze Antwort lautet: Während die Politik in Washington weitestgehend stagniert, zeigen sich zumindest auf regionaler Ebene so manche Lichtblicke.
Noch im Sommer 2020, als direkte Reaktion auf die «grösste Protestbewegung in der Geschichte des Landes» («New York Times»), stellten das Movement for Black Lives und die zwei demokratischen Kongressabgeordneten Rashida Tlaib und Ayanna Pressley den «Breathe Act» vor, eine Gesetzesinitiative zur umfassenden Transformation des Strafapparats. Zu den Forderungen gehörten eine Verkleinerung der Polizeibehörden, die Entkriminalisierung von Drogen, die Einführung neuer Community-Justizverfahren und grossflächige Investitionen in soziale Programme.
Umgesetzt wurde der «Breathe Act» jedoch genauso wenig wie seine abgeschwächte Version: Der «George Floyd Justice in Policing Act» erhielt im März 2021 immerhin eine Mehrheit im Repräsentantenhaus, bevor er dann im Senat stecken blieb. Gescheitert sind auch Vorstösse auf Bundesebene, die «qualifizierte Immunität» abzuschaffen. Durch diese Klausel sind Zivilklagen gegen gewalttätige Polizist:innen nahezu unmöglich.
Die Präsidentschaft Joe Bidens ist aus progressiver Perspektive ebenfalls eine Enttäuschung. Zum zweiten Todestag von George Floyd im Mai 2022 unterzeichnete der 46. Präsident zwar eine Executive Order, die eine Verpflichtung zu Körperkameras, das Verbot von Würgegriffen und mehr Transparenz über polizeiliches Fehlverhalten einschloss. Die Bestimmungen gelten allerdings alleine für die Bundesbehörden, die nur einen kleinen Teil der gesamten Polizei ausmachen. Und sie treffen auch kaum den Kern der Probleme. Konträr zu fast allen progressiven Forderungen hat Biden das Polizei- und Militärbudget insgesamt um Dutzende Milliarden erhöht. Seinem Plan nach sollen in den kommenden Jahren 100 000 neue Polizist:innen eingestellt werden.
«Law and Order» bleibt Paradigma
Die Demokrat:innen unterscheiden sich von den offen rassistischen Republikaner:innen dadurch, dass sie zumindest bestimmte Veränderungen anschieben und die Polizei punktuell kritisieren. Was den Ausbau des seit Jahrzehnten wachsenden Strafsystems betrifft, sind sich die Führungsfiguren beider Parteien jedoch einig. «Law and Order» bleibt das regierende Paradigma des Landes – und es wird umso stärker behauptet, je weniger es die Probleme löst.
Wer Fortschritte sucht, muss sich auf lokaler Ebene umschauen. Bemerkenswert ist beispielsweise die Entwicklung in St. Petersburg, der fünftgrössten Stadt im konservativen Florida. Dort entschieden die Behörden im Sommer 2020, eine bereits zuvor geplante Aufstockung des Polizeipersonals zurückzunehmen und die dafür vorgesehenen Millionen für andere Zwecke zu nutzen. Rund 95 Prozent der Polizeinotrufe, bei denen es nicht um Gewaltdelikte geht, werden in St. Petersburg mittlerweile von Sozialarbeiter:innen übernommen – mit Erfolg: Seit dem Start der Initiative ist die Zahl der Suizide um siebzehn Prozent gesunken, obwohl die Zahl der suizid-bezogenen Anrufe um sechzig Prozent gestiegen ist. Ähnliche Projekte laufen in anderen Städten. Die dafür bereitgestellten Ressourcen sind jedoch immer noch stark begrenzt.
Auch an anderen Orten der USA wurden Reformen verabschiedet, die immerhin in die richtige Richtung zeigen. Als Antwort auf die Floyd-Proteste beschloss Colorado als erster Bundesstaat ein Ende der erwähnten «qualifizierten Immunität». Neu ist dort auch, dass Beamt:innen sich nun strafbar machen, wenn sie bei Fehlverhalten von Kolleg:innen nicht einschreiten. Zudem hat der Staat eine umfassende Drogenentkriminalisierung eingeleitet und ein Verbot der als «choke holds» bekannten Würgegriffe beschlossen.
Verbot von Tränengas
Neben Colorado wurde auch in Virginia und Maryland eine Reihe von Gesetzesänderungen beschlossen, die die Polizeigewalt reduzieren sollen. In immer mehr Bundesstaaten sind «no-knock warrants» verboten oder eingeschränkt – Durchsuchungsbefehle, bei denen die Einsatzkräfte nicht an die Tür klopfen müssen. Auf diese Weise war im Frühjahr 2020 in Louisville (Kentucky) die Schwarze Rettungssanitäterin Breonna Taylor nachts in ihrer Wohnung von der Polizei getötet worden. In Berkeley (Kalifornien) und anderen Städten ist mittlerweile der Einsatz von Tränengas untersagt worden. Und in Massachusetts dürfen die Polizeibehörden bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr auf Gesichtserkennungssoftware zurückgreifen.
All diese Entwicklungen – so klein sie angesichts der notwendigen Transformation des ganzen Justizsystems auch erscheinen – wären ohne die Proteste der vergangenen Jahre und den Druck lokaler Gruppen nicht vorstellbar. Dass weiterhin ein Grossteil der Bevölkerung in Umfragen den Erhalt, oft sogar den Ausbau der Polizei will, hat verschiedene Gründe; einer davon ist, dass den Leuten zum Thema öffentliche Sicherheit seit Jahrzehnten kaum etwas anderes angeboten wird als eine stetig wachsende Polizeipräsenz.
Für die abolitionistische Bewegung bleibt es eine der grössten Herausforderungen, innerhalb der Communitys Mehrheiten zu gewinnen. Sobald das der Fall ist, könnten über Volksentscheide radikale Reformen erzwungen werden. Das Referendum zum Erhalt der Abtreibungsrechte in Kentucky im vergangenen November ist dabei ein leuchtendes Vorbild.