Europa: Asymmetrisch zerklüftet
Die als «historische Einigung» gefeierte Übereinkunft vom 21. Juli ist vor allem ein Kunstgriff: Er definiert das unebene Spielfeld, auf dem die EU künftig agiert. Deren Demokratisierung muss hingegen warten.
Handlungsfähigkeit kann durchaus eine Errungenschaft sein. Dann nämlich, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht. Insofern ist es schon ein Erfolg, dass der fünftägige EU-Gipfel im Juli letztlich doch noch mit einer Einigung zu Ende ging. Die Coronakrise erwischte die Union bekanntermassen mitten in einem langwierigen Konflikt um den bis 2027 gültigen Mehrjahreshaushalt. Das gescheiterte Treffen vom Februar schwebte drohend über der EU: als Erinnerung daran, dass ihre akuten Probleme keineswegs nur dem aktuellen, virusbedingten Ausnahmezustand geschuldet sind. Nun gibt es immerhin einen finanziellen Rahmen, in dem sie sich angehen lassen.
Im Hinblick auf die enormen Herausforderungen, vor denen die EU steht, muss jedoch festgehalten werden: Der «historische Deal», den die beteiligten Staats- und RegierungschefInnen, die Kommissionsvorsitzende Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel nicht müde wurden zu rühmen, war in erster Linie ein Kunstgriff. Er bestand darin, die Zusammensetzung des Corona-Wiederaufbaufonds inhaltlich mit dem Haushaltsentwurf zu verknüpfen. Zugeständnisse hier gegen Extras dort: ein klassischer Brüsseler Kuhhandel.
Düstere Aussichten
Dennoch bleibt nach dem Gipfel der Eindruck eines Pyrrhussiegs. Teuer erkauft wurde er nicht nur wegen der heftigen Auseinandersetzungen um die vereinbarten Milliarden. Der Kompromiss und seine Entstehungsgeschichte offenbaren auch drei existenzielle Probleme, die auf komplexe Weise miteinander verwoben sind: die zunehmende Spaltung der EU-Staaten in Fraktionen, die interne Unstimmigkeit bezüglich politischer Grundwerte sowie die Blockade institutioneller Reformen und eines grundlegenden Demokratisierungsprozesses. Nach den EU-Parlamentswahlen vom letzten Jahr hätte man damit eigentlich enthusiastisch in die Zukunft starten wollen.
Bei den Fraktionen fällt sogleich die erstarkte deutsch-französische Achse ins Auge. Der Coronaausbruch hat die Regierungen in Berlin und Paris wieder näher zusammengebracht. Die deutsche Abweichung vom strikten Austeritätskurs macht das Duo Macron und Merkel zum derzeitigen Motor der EU. Die neue Bereitschaft zu gemeinsamen Schulden ist tatsächlich bahnbrechend; sie bedeutet auch einen Aufbruch in Richtung einer weiteren Integration Europas, insbesondere in fiskalpolitischer Hinsicht. Ein Schritt, der ohne Coronanotstand nicht möglich gewesen wäre.
Mehr als isolierte Renitente
Bewirkt hat den Kurswechsel schlicht das Ausmass der Krise. Die EU-Kommission hatte ihre Prognosen für 2020 Anfang Juli ein weiteres Mal gesenkt: In der Eurozone erwartet sie nun einen durchschnittlichen Wachstumseinbruch von 8,7 Prozent. Im Mai waren es noch 7,7 Prozent gewesen. Besonders drastische Werte gibt es für Italien, Spanien und Frankreich. Valdis Dombrovskis, für Finanzen zuständiger Vizevorsitzender der Kommission, räumte ein, die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns wögen noch schwerer als vermutet.
Dombrovskis’ Erklärung liess aufhorchen. Die Aufhebung der Lockdown-Massnahmen ging schon zu diesem Zeitpunkt langsamer vonstatten als erhofft – und dass bloss einen Monat später an vielen Orten in Europa die Regeln bereits wieder verschärft werden, deutet an, dass auch diese Prognose noch lange nicht die Talsohle bedeuten muss. Zumal in den touristischen Regionen Südeuropas die Sommersaison bald schon wieder vorbei ist und die Verluste noch weitaus schwerer als erwartet ausfallen könnten.
Dass der Trend zu fiskaler Integration vor diesem Hintergrund nicht aufzuhalten war, wussten die Regierungen jener Länder, die nun als «frugal four», als die «sparsamen Vier», weithin bekannt sind. Österreich, die Niederlande, Dänemark und Schweden haben sich ihre Zustimmung zum Coronafonds mit Rabatten auf ihre Mitgliedsbeiträge aufwiegen lassen. Ihre harte Verhandlungsposition während der neunzig Stunden dauernden Verhandlungen beruhte auf inhaltlichen Positionen, die sich um Austerität und Widerwillen gegen mehr europäische Integration drehen. Diese Positionen hatten sie bereits seit knapp einem halben Jahr eng aufeinander abgestimmt. Schon beim gescheiterten Haushaltsgipfel im Februar traten sie gemeinsam gegen ein erhöhtes Budget auf. In der «Financial Times» publizierten die RegierungschefInnen einen gemeinsamen Artikel, in dem es hiess: «Wir sind bereit, deutlich mehr für die EU zu zahlen, als wir zurückbekommen. Wir profitieren stark von der EU-Mitgliedschaft und dem gemeinsamen Markt. Doch es gibt Grenzen.»
In Brüssel bekam der Klub der «Sparsamen» – oder, je nach Sichtweise, der «Geizigen» – nun Unterstützung von Finnland. Manche sprechen daher schon von den «frugal five». Was zeigt, dass es sich dabei keineswegs um ein paar isolierte Renitente handelt, sondern dass deren Standpunkte anschlussfähig sind. Hinzu kommt: Die Mitglieder sind zwar kleine Länder, aber allesamt Nettozahler. Dass sie sich mehr und mehr zu einer integrationsunwilligen Fraktion zusammentun, ist ein Warnsignal.
Wie hart verhandelt das Parlament?
Gleiches gilt für ein anderes Bündnis, das seinerseits schon seit knapp dreissig Jahren existiert und dessen Zusammenarbeit offizielle Strukturen hat: die Visegrad-Gruppe mit Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei. So lag ein weiterer zentraler Konfliktpunkt des Gipfels in der verbindlichen Kopplung von EU-Geldern an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien, wogegen sich Polen und Ungarn heftig und mit Erfolg wehrten. Unterstützt wurden sie dabei von Tschechien – und Slowenien. Auch hier also ist eine Dynamik im Gang, die entsprechende Positionen auch ausserhalb der ursprünglichen Gruppe vertretbar werden lässt.
Vereinfacht gesagt, bewirkt die Frage nach Haushaltsdisziplin und fiskaler Integration innerhalb der EU eine Kluft zwischen Süd und Nord – und das Thema Rechtsstaatlichkeit eine weitere zwischen Ost und West. Resultat ist eine zunehmende asymmetrische Zerklüftung, deren Gründe miteinander verknüpft sind. So tritt der Klub der Sparsamen gern entschieden für die europäischen Grundwerte ein und sieht sie ebenso wie Haushaltsdisziplin als Bedingung für Unterstützung aus gemeinsamen Geldtöpfen.
Die Uneinigkeit und Inkonsequenz beim Umgang mit den sogenannt illiberalen Demokratien im Inneren schwächt auch die Position der EU nach aussen, wo autokratische Regimes zunehmend zum Standard werden. Grosse Sorgen darüber macht sich nicht zuletzt das EU-Parlament. Der laxe Umgang mit rechtsstaatlichen Standards war Ende Juli Teil einer kritischen Resolution zum eben noch in der Presse bejubelten Haushalts- und Coronakompromiss. Weiter werden darin höhere Ausgaben für Gesundheit und Forschung, den «Fonds für einen gerechten Wandel» und das studentische Austauschprogramm «Erasmus» gefordert.
Alle grossen Fraktionen teilen die Bedenken. Der «historische Deal» muss also nachgebessert werden, damit das EU-Parlament dem Haushaltsplan zustimmt. Entscheidend wird sein, wie hart die Abgeordneten verhandeln. Wird sich an dieser Frage ein Machtkampf entzünden? Pikanterweise ähnelt die Konstellation derjenigen von 2019, als auch eine lange und kontrovers diskutierte Schlüsselentscheidung – die Personalie der Fraktionsvorsitzenden Ursula von der Leyen – nach der Sommerpause dem Parlament vorgelegt wurde.
Mehr als damals könnten die Parlamentsmitglieder nun geneigt sein, am Ende nicht um des Friedens Willen zuzustimmen. Anders nämlich als nach der EU-Wahl beabsichtigt, hat das Parlament sich gegenüber der Kommission und dem Rat der Staats- und RegierungschefInnen bislang nicht profilieren und damit die viel beschworene Demokratisierung der EU vorantreiben können. Das liegt nicht nur daran, dass die Coronakrise die parlamentarische Logistik schwer beeinträchtigt hat. Vielmehr offenbart der Gipfeldeal in geradezu klassischer Weise die Machtverhältnisse zwischen den europäischen Institutionen: Initiiert wurde er von Angela Merkel, Emmanuel Macron und der EU-Kommission, auf der Zielgerade modelliert von EU-Ratspräsident Charles Michel, final ausgehandelt von den RegierungschefInnen. Corona erweist damit auch der Demokratisierung der EU einen Bärendienst – Handlungsfähigkeit hin oder her.