Chile: Der Genosse Präsident
Vor fünfzig Jahren gewann Salvador Allende die chilenische Präsidentschaftswahl. Drei Jahre später wurde sein demokratischer Weg zum Sozialismus gewaltsam abgebrochen. Können ihn seine politischen EnkelInnen wieder aufnehmen?
Am 26. März verhängte Chiles Präsident Sebastián Piñera wegen der Coronapandemie eine Ausgangssperre über die Hauptstadt Santiago und liess sie vom Militär durchsetzen. In den Monaten zuvor hatte es täglich Demonstrationen und Strassenschlachten gegeben. Der Regierungspalast Moneda war weiträumig mit hohen Gittern abgesperrt, dahinter wachten Wasserwerfer und Carabineros in Kampfmontur.
Nur an der Ecke des Palasts gegenüber dem Justizministerium formte der Abwehrwall eine kleine Bucht und sparte die Statue aus, die dort steht: Salvador Allende, auf einem hohen Marmorsockel. Sein Geburts- und sein Todesjahr sind in den Stein gemeisselt, zusammen mit einem Zitat: «Ich habe Vertrauen in Chile und in sein Schicksal.» Der Satz stammt aus seiner letzten Rede, die am 11. September 1973 im Radio übertragen wurde. Im Hintergrund hörte man die Detonationen der Bomben, die an jenem Tag auf die Moneda geworfen wurden. Kurz nach der Ansprache erschoss sich der Präsident.
Es mag Zufall gewesen sein. Jedenfalls hat Präsident Piñera, ein Multimilliardär und Profiteur des damaligen Putschs, den Zaun um den Regierungspalast so errichten lassen, dass die Allende-Statue nicht auf seiner Seite stand, sondern auf der anderen. Unter Allende gab es keine Zäune, die Moneda war offen, und davor standen keine waffenbewehrten Carabineros. «Es gab Konflikte, die man lösen musste», erinnert sich Jacques Chonchol, der damals Landwirtschaftsminister war. «Aber nie mit Repression.» Er erzählt von einer Sitzung mit dem Präsidenten, bei der vom Polizeichef gemeldet wurde, man habe eine illegale Landbesetzung mit Schlagstöcken aufgelöst. Allende habe ihn harsch zurechtgewiesen: «Unter keinen Umständen akzeptiere ich Repression.» Es sei eines der wenigen Male gewesen, dass er den Präsidenten aufbrausend sah. Sonst aber sei man von ihm «nie als Untergebener behandelt worden. Er war immer ‹der Genosse Präsident›.»
So stand die Statue in den Monaten der Unruhen auf der richtigen Seite. Einzig der hohe Sockel wird Allende nicht gerecht. Er müsste unten stehen, auf dem Boden, bei den Leuten.
Der Coup beim vierten Anlauf
Am 4. September vor fünfzig Jahren hat dieser Mann die Präsidentschaftswahl von Chile gewonnen. Er hatte sich vorher schon drei Mal beworben, zuletzt 1966 gegen den Christdemokraten Eduardo Frei Montalva. Hinterher ist herausgekommen, dass dessen Wahlkampf vom US-Geheimdienst CIA mit drei Millionen US-Dollar finanziert worden war. Frei Montalva verfolgte die damals von Washington gewünschte Politik vorsichtiger Sozialreformen, mit der eine zweite Revolution in Lateinamerika wie die seit 1959 in Kuba unterbunden werden sollte. Die USA waren zufrieden mit ihm, in Chile jedoch machte er es keinem recht. Seine nur schleppend vorankommende Landreform und die langsame Nationalisierung der Kupferindustrie ging der Rechten viel zu weit – und war der Linken viel zu wenig. So schien 1970 zum ersten Mal ein linker Wahlsieg möglich.
Zunächst sah es freilich nicht danach aus, die Linke war heillos zersplittert: Allende wurde zum vierten Mal von den SozialistInnen als Kandidat nominiert, die Kommunistische Partei wollte mit dem Dichter und späteren Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda ins Rennen, die Mapu (eine linke Abspaltung der ChristdemokratInnen) hob Chonchol auf den Schild. Zu allem Überfluss versuchten auch noch die ChristdemokratInnen, mit Radomiro Tomic vom linken Parteiflügel im linken WählerInnenpotenzial zu fischen. Letztlich einigten sich die Linksparteien doch – und gründeten am 17. Dezember 1969 die Unidad Popular. Im Grunde war diese Volksfront nicht mehr als ein Wahlbündnis aus Sozialistinnen, Kommunisten, Mapu, Mir (Bewegung der revolutionären Linken) und einem halben Dutzend weiterer Kleinparteien. Ein Streit zwischen dem eher institutionell-legalistischen Teil um die Kommunistische Partei und Teilen der SozialistInnen auf der einen sowie einem sozialrevolutionären Flügel um Mir, Mapu und linksradikale Zirkel der SozialistInnen auf der anderen Seite war von vornherein angelegt.
Allende gewann die Wahl vom 4. September 1970 mit mageren 36,3 Prozent der Stimmen. Sein rechter Gegenkandidat Jorge Alessandri kam auf 34,9, der Christdemokrat Tomic auf 27,9 Prozent. Da keiner mehr als 50 Prozent erreicht hatte, griff eine Bestimmung des damaligen chilenischen Wahlrechts: Das Parlament musste in einer Stichwahl zwischen den beiden Erstplatzierten entscheiden. Es gehörte zur Gepflogenheit, dass der Kandidat mit den meisten Stimmen der Volkswahl dann auch vom Parlament gewählt wurde. Die ChristdemokratInnen waren bereit, Allende ihre Stimme zu geben. Die rechten NationalistInnen aber wollten das mit allen Mitteln verhindern. Sie hatten starke Verbündete: den damaligen US-Präsidenten Richard Nixon und seinen Sicherheitsberater Henry Kissinger.
Ein Macho der alten Schule
Wer war dieser Salvador Allende, den Nixon und Kissinger so sehr fürchteten? Geboren wurde er am 26. Juni 1908, nach seiner eigenen Darstellung in der Hafenstadt Valparaíso. Vielleicht ist das aber auch nur eine geschickt gestreute Legende, die ihm 1945 helfen sollte, für den dortigen Wahlkreis zum Senator gewählt zu werden. Es gibt auch Dokumente, die darauf hinweisen, dass Allende in Santiago zur Welt kam.
Väterlicherseits stammte er von baskischen EinwanderInnen ab, die schnell zu den angesehensten Familien des Landes gehörten. Sein Grossvater Ramón Allende war ein prominenter Arzt, hatte als Freimaurer Zugang zur Elite und wurde so zu einem führenden Politiker der bürgerlichen Radikalen Partei, den man wegen seiner scharfen Reden zu sozialen Problemen «El Rojo» nannte – den Roten. Auch Allendes Vater, ein Notar und öffentlicher Bediensteter, der ebenfalls Salvador hiess, war Freimaurer und in der Radikalen Partei. Seine Mutter Laura Gossens war die Tochter eines belgischen Einwanderers, der sich mit einer grossbürgerliche Dame aus Concepción im südlichen Chile verheiratet hatte.
Salvador Allende wuchs zusammen mit zwei Brüdern und drei Schwestern (ein Bruder und eine Schwester starben bereits im Kindesalter) in gutbürgerlichen Verhältnissen auf. Nach seinem Militärdienst in Tacna begann er 1926 an der staatlichen Universität in Santiago ein Medizinstudium. Zunächst war er sich nicht sicher, ob er nicht lieber Anwalt werden sollte, schloss dann aber seine Arztausbildung mit der Promotion ab. Den Beruf jedoch übte er nur wenige Jahre aus.
Schon an der Universität engagierte sich Allende politisch, wurde zum Vizepräsidenten der StudentInnenschaft gewählt und nahm an Protesten gegen die damalige Militärdiktatur unter Oberst Carlos Ibáñez teil. Einmal wurde er in diesem Zusammenhang verhaftet, kam aber nach wenigen Tagen wieder frei. 1933 war er Mitgründer der Sozialistischen Partei und wurde ihr Sekretär in der Region Valparaíso.
Seine grossbürgerliche Herkunft hat Allende nie verleugnet. Er war ein Dandy, der viel Wert auf gute Kleidung und ein gepflegtes Äusseres legte. Er war ein Frauenschwarm und liebte die Frauen. Ab 1940 war er mit der ebenfalls aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammenden Hortensia Bussi verheiratet und hatte mit ihr drei Töchter. Daneben pflegte er stets weitere Verhältnisse und unterhielt in Santiago eine kleine Wohnung für seine amourösen Treffen. In seinen letzten Jahren war seine um zwanzig Jahre jüngere Privatsekretärin Miria Contreras seine ständige Geliebte. Sie, und nicht Hortensia Bussi, war am Tag des Putschs mit ihm zusammen im Regierungspalast.
So gesehen war Allende ein typischer lateinamerikanischer Macho der alten Schule. Am 6. August 1952 duellierte er sich im letzten bekannt gewordenen Ehrenduell der chilenischen Geschichte. Sein Gegner war Raúl Rettig, ein Senator der Radikalen Partei. Die beiden waren im Senat wegen einer Belanglosigkeit aneinandergeraten, hatten sich wüst beschimpft und wollten schon tätlich werden, wurden aber von anderen Senatoren getrennt. Rettig bestand danach auf einer Entschuldigung Allendes oder auf einem Duell. Man traf sich im Morgengrauen mit Pistolen. Beide schossen daneben.
Das Duell war ein nationaler Skandal, zumal Allende Präsidentschaftskandidat des Linksbündnisses Frente Nacional del Pueblo (Nationale Front des Volkes) bei der Wahl vier Wochen später war. Er landete mit 5,45 Prozent der Stimmen auf dem vierten und letzten Platz.
Für Allende war das nicht mehr als ein erster Versuch. Er hatte seine Karriere seit seinen Studententagen geplant. 1929 trat er wie schon der Vater und der Grossvater den Freimaurern bei. Im selben Jahr wurde er Mitglied des Grupo Avance, einer Art Lions Club von Chile. Beide Männernetzwerke sollten seinem politischen Aufstieg nützlich sein: 1937 wurde er Parlamentsabgeordneter für die Sozialistische Partei, 1938, erst gerade dreissig, Gesundheitsminister in der Regierung von Präsident Pedro Aguirre von der Radikalen Partei. Als dessen Mitte-links-Koalition zwei Jahre später zerbrach, schied Allende aus dem Kabinett aus, wurde aber schon 1945 mit grossem Vorsprung für den Wahlkreis Valparaíso in den Senat gewählt.
1958 trat Allende zum zweiten Mal als Präsidentschaftskandidat an, diesmal für das 1956 gegründete Parteienbündnis Frente de Acción Popular (Front der Volksaktion), dem ausser der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei ein paar linksbürgerliche und linke Splittergruppen angehörten. Allende verlor die Wahl nur knapp mit 28,8 Prozent der Stimmen gegen den konservativen Unternehmer Jorge Alessandri, der in der Stichwahl im Parlament zum Präsidenten bestimmt wurde.
Bei der nächsten Wahl sechs Jahre später unterlag Allende deutlich. Der Christdemokrat Eduardo Frei Montalva erhielt 55,7 Prozent der Stimmen; Allende kam mit 39,9 Prozent auf den zweiten Platz.
Spätestens seit der Gründung der Sozialistischen Partei verstand sich Allende als Marxist. Gleichzeitig war er in seiner progressiv-bürgerlichen Familientradition ein Demokrat. Eine Regierung, die sich vornahm, ein sozialistisches Land aufzubauen, brauchte nach seiner Überzeugung eine demokratische Legitimation. Wahrscheinlich machte ihn das für die Antikommunisten Nixon und Kissinger noch viel gefährlicher: dass er am 4. September 1970 vom Volk und am 24. Oktober vom Parlament ein konstitutionelles Mandat für den Aufbau eines sozialistischen Chile erhalten hatte.
Putschversuch der USA vor Amtsantritt
Aus inzwischen freigegebenen Dokumenten der CIA und des US-Aussenministeriums weiss man, dass die Putschvorbereitungen gegen Allende begannen, bevor dieser seinen Amtseid abgelegt hatte. Am 4. September hatte er die Wahl knapp gewonnen, am 9. September flog Agustín Edwards, der einflussreiche Besitzer des Medienimperiums um die rechte Tageszeitung «El Mercurio», nach Washington, wo er am 15. September 1970 um 15 Uhr im Weissen Haus von Nixon empfangen wurde. Ausser dem Präsidenten nahmen an diesem Treffen unter anderen Kissinger und CIA-Chef Richard Helms teil.
Nach den Notizen von Helms sagte Nixon, um Allendes Wahl im Parlament zu verhindern, seien «zehn Millionen Dollar verfügbar, wenn nötig auch mehr». Er sei bereit, «die besten Leute» zu schicken. Die CIA wurde angewiesen, innerhalb von 48 Stunden einen Aktionsplan vorzulegen.
Dieser sah zunächst recht harmlos aus. Unter dem Decknamen «Gleis 1» wurde eine Verleumdungskampagne gegen Allende inszeniert, mit der die ChristdemokratInnen davon überzeugt werden sollten, bei der Stichwahl für Alessandri zu stimmen. Doch alles deutete darauf hin, dass sie nicht mitspielen würden. So wurde «Gleis 2» des CIA-Plans ausgelöst. Die Anweisungen fasste das Hauptquartier des Geheimdienstes in einer Depesche an die US-Spione in Chile so zusammen: «Wir wollen, dass Sie eine militärische Aktion fördern, für die eine Atmosphäre grösstmöglicher wirtschaftlicher und politischer Ungewissheit die günstigsten Bedingungen bieten würde.» Und CIA-Chef Helms schrieb an Kissinger: «Eine plötzliche katastrophale ökonomische Situation wäre der geeignetste Vorwand für ein Eingreifen der Militärs.» Allende sollte weggeputscht werden, bevor er überhaupt ins Amt gekommen war.
In der CIA wurde in aller Eile eine Chile-Arbeitsgruppe eingerichtet, die die Operation unter dem Decknamen «Fubelt» koordinieren sollte. Direktor war David Atlee Phillips, und dieser kabelte an seine Agenten in Chile: «Machen Sie zwingend klar, dass ein Putsch des Militärs die einzige Lösung darstellt.» Doch es gab ein Problem: General René Schneider, der Oberbefehlshaber der Armee, war ein loyaler Soldat und strikt gegen eine Einmischung der Militärs in die Politik. Die US-Botschaft in Santiago kabelte nach Washington: «General Schneider müsste kaltgestellt werden, notfalls durch seine Entlassung.»
Die Antwort kam am 21. Oktober 1970. Die CIA schickte im Diplomatengepäck für die Botschaft in Santiago drei Maschinenpistolen, Munition und Tränengasgranaten. Am 22. Oktober traf sich der US-Militärattaché Oberst Paul Wimert frühmorgens um zwei in einer menschenleeren Strasse von Santiago mit einem Kommando der rechtsextremen Terrororganisation Patria y Libertad und übergab das kleine Waffenarsenal. Die Gruppe war von der CIA schon vorher mit Geldzuwendungen aufgepäppelt worden.
Die Waffen waren wohl eher eine Geste, die zeigen sollte: Wir stehen hinter euch, egal wie weit ihr geht. Denn als General Schneiders Jeep sechs Stunden später angehalten wurde, hatten die Männer von Patria y Libertad ihre eigenen Waffen dabei. Hinter dem Steuer des Jeeps war ein Chauffeur, Schneider sass auf der Rückbank. Einer der Attentäter zertrümmerte mit einem Vorschlaghammer die hintere Wagenscheibe. Die Angreifer eröffneten das Feuer. Schneider wurde von drei Kugeln getroffen und starb zwei Tage später.
Doch der Anschlag löste nicht die gewünschten Unruhen aus. Im Gegenteil: Militärs und PolitikerInnen rückten zusammen. Am 24. Oktober wurde Allende im Parlament mit den Stimmen der Unidad Popular und der ChristdemokratInnen zum Präsidenten gewählt und am 4. November vereidigt. Bei der CIA wurde ein neuer Plan mit der Überschrift «Allende nach der Amtseinführung» ausgearbeitet. Das Ziel blieb dasselbe: Das Land sollte ins Chaos gestürzt werden, um dem Militär einen Vorwand für einen Putsch zu liefern.
Beschleunigte Reformen, leere Regale
Dabei unterschied sich Allende programmatisch kaum von seinem Vorgänger. Schon Frei Montalva hatte eine Agrarreform aufgelegt, um der seit der Unabhängigkeit bestehenden ungleichen Verteilung von Land ein Ende zu machen. 5,3 Prozent der Güter waren Grossgrundbesitz und verfügten über 86,8 Prozent der nutzbaren Flächen; 85,2 Prozent der Betriebe waren Minifundien mit zusammen 5,8 Prozent des Bodens. Nach der Reform sollten Güter ab einer je nach Bodenqualität unterschiedlichen Höchstgrenze und brachliegende Latifundien enteignet werden. Aber unter Frei Montalva waren gerade mal 18 Prozent der möglichen Fläche umverteilt worden – erst unter Allende wurde die Landreform beschleunigt. Ende 1972 gab es in Chile keinen privaten Grossgrundbesitz mehr.
Auch in anderen Wirtschaftszweigen hat die Unidad Popular im Grunde nur die von den ChristdemokratInnen begonnene Reformpolitik beschleunigt, vertieft und radikalisiert. Der Staatskonzern für die Förderung der Produktion (Corfo) hatte schon seit 1939 nicht nur in Infrastruktur, Energie und Minen investiert, sondern auch einen staatlichen Industriesektor aufgebaut, dessen Anteil an der gesamten nationalen Produktion schon vor Allendes Amtsübernahme bei rund vierzig Prozent lag. In der Zeit der Unidad Popular wurden dann auch die Banken und der Aussenhandel verstaatlicht. Bis zum September 1973 übernahm der Staat über 500 Unternehmen oder stellte sie unter seine Verwaltung. Der staatliche Anteil an der nationalen Produktion wuchs so innerhalb von drei Jahren auf achtzig Prozent.
Allerdings liefen die Landreform und auch die Verstaatlichung von Handel und Industrie nicht immer planmässig ab. Innerhalb der Unidad Popular gab es kein Konzept für einen chilenischen Weg zum Sozialismus, das von allen regierungsbeteiligten Parteien unterstützt worden wäre. Die Kommunistische und grosse Teile der Sozialistischen Partei bevorzugten den legalen Weg über die demokratischen Institutionen; der linke Flügel der SozialistInnen, Mir und Mapu dagegen liessen sich vom revolutionären Kuba inspirieren und wollten Wirtschaft, Staat und Gesellschaft zur Not auch mit Gewalt umkrempeln. Allende versuchte, beide Strömungen zusammenzuhalten: Persönlich favorisierte er den legalen Weg, andererseits akzeptierte er illegale Landbesetzungen durch revolutionäre Gruppen und die Verstaatlichung von Industriebetrieben ohne gesetzliche Grundlage.
Trotz innerer Uneinigkeit war die Unidad Popular zunächst sehr erfolgreich: Die Wirtschaft wuchs 1971 um neun Prozent, die Kaufkraft der ArbeiterInnen nahm zu; Preise für Mieten und Grundnahrungsmittel wurden staatlich festgesetzt, Gesundheitsversorgung und Bildung waren gratis. Vor allem die Armen und deren Kinder profitierten davon. Doch der Aufschwung war fast ausschliesslich auf staatlichen Sozialprogrammen und einer Ausweitung der Geldmenge zur Stimulierung der Nachfrage aufgebaut. Die Warenproduktion hielt nicht mit. PrivatunternehmerInnen investierten aus Furcht vor Verstaatlichungen nicht mehr, und unkoordinierte Landbesetzungen liessen die Lebensmittelproduktion sinken, sodass ab Mitte 1972 die wichtigsten Grundnahrungsmittel rationiert werden mussten.
Am verheerendsten waren zwei grosse Streiks der Fuhrunternehmer im Oktober 1972 und im Juli 1973. Da Chiles Kornkammer im Süden von Santiago liegt, muss der Rest des schmalen und über 4000 Kilometer langen Landes mit Lastwagen versorgt werden – die beiden Streiks sorgten so vom äussersten Süden bis in den hohen Norden für leere Regale in den Läden. Hamsterkäufe und Spekulation mit gehorteten Waren, Schwarzmarkt und Inflation nahmen ein vorher ungeahntes Ausmass an. Lag die jährliche Teuerung bei Allendes Amtsantritt noch bei 29 Prozent, so überschritt sie Mitte 1973 die 600-Prozent-Grenze.
Dazu kamen Sabotageakte der Ultrarechten; in den knapp drei Jahren der Unidad Popular gab es über 600 Anschläge auf Eisenbahnlinien, Brücken, Hochspannungsmasten und Pipelines. Auf der anderen Seite verübte die radikale Linke – die schon früh einen Militärputsch fürchtete, die Auflösung des Militärs forderte und stattdessen Volksmilizen aufbauen wollte – Attentate auf Armeeangehörige.
Allende versuchte die Situation zu entspannen, indem er ab Ende 1972 hochrangige Militärs in die Regierung aufnahm: Heereschef General Carlos Prats – Nachfolger des 1970 ermordeten Schneider – wurde im November 1972 Innenminister und überliess die Heeresführung seinem Stellvertreter, General Augusto Pinochet, den er für einen loyalen Soldaten hielt. Er hatte sich getäuscht. Aber das ist eine Geschichte, an die in drei Jahren zum 50. Jahrestag des Putschs erinnert werden wird.
Die Linke nach Corona
Pinochet halten heute nur noch ein paar Ewiggestrige in Ehren. Umso mehr gab es über all die Jahre – bis zum Beginn der Corona-Ausgangssperre im März dieses Jahres – massive Proteste gegen die von ihm durchgesetzte neoliberale Ordnung und ihre wahnwitzig ungerechte Einkommensverteilung. Wenn sich Transparente bei Demonstrationen überhaupt positiv auf einen Politiker bezogen, dann auf Allende. «In drei Jahren haben wenige Regierungen auf der Welt so viel verändert», sagt José Cademartori, damals Wirtschaftsminister im Kabinett der Unidad Popular. Und das unter «schwierigen, nie da gewesenen Bedingungen: Es gab keine Erfahrungen mit dem Versuch struktureller revolutionärer Veränderungen unter den Bedingungen einer friedlichen Entwicklung des politischen Lebens.»
Dieser Versuch eines demokratischen Wegs zum Sozialismus wurde gewaltsam abgebrochen. «Aber aus einer Krise, wie wir sie heute erleben, erwachsen neue Möglichkeiten», sagt Cademartori. «Es eröffnet sich eine grosse Gelegenheit für die konsequente Linke.» Allendes politische EnkelInnen haben das verstanden. Wenn die Coronaplage in Chile abflaut, werden sie wieder auf der Strasse sein.
Chile 2020: Proteste trotz Corona
Abgesehen von der Ausrufung des Notstands am 18. März hat Chiles rechter Präsident Sebastián Piñera angesichts der Coronapandemie nicht viel getan. Chile ist eines der von Covid-19 am meisten betroffenen Länder. Pro 100 000 EinwohnerInnen wurden weit über 2000 positiv auf das Virus getestet. Weltweit kommen nur Katar und Bahrain auf noch schlechtere Werte. Von den gut 18,5 Millionen ChilenInnen sind bereits weit über 10 000 an der Krankheit gestorben. Einen Erfolg aber schien Piñera zunächst zu haben: Die über Monate anhaltenden Proteste gegen das extrem neoliberale Wirtschaftssystem (siehe WOZ Nr. 15/2020 ) waren zunächst einmal von der Strasse.
Doch schon nach einem Monat gab es wieder erste Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften. Sie spielten sich nicht mehr, wie vorher, im Zentrum von Santiago ab, sondern in den Armenvierteln. Dort leben die Menschen eng zusammengedrängt, Covid-19 konnte sich rasend schnell ausbreiten. Weil aber die meisten als Strassenhändler oder Taglöhnerinnen arbeiten und heute das verdienen, wovon sie morgen essen, können sie sich nicht leisten, zu Hause zu bleiben. Nennenswerte Sozialprogramme gibt es nicht, und so entlud sich der Frust in Strassenschlachten.
Anfang August flammten auch die Proteste der Mapuche wieder auf. Die rund 800 Kilometer südlich von Santiago lebende grösste indigene Ethnie des Landes kämpft seit über 200 Jahren um ihr Land. Der Staat antwortet auf Proteste mit Repression und den Antiterrorgesetzen der Diktatur. Zuletzt wurden mehrere Gebäude, über ein Dutzend Lastwagen und schweres Gerät einer auf Mapuchegebiet arbeitenden Baufirma niedergebrannt.