Erwachet: Die Panne
Michelle Steinbeck sucht zeitgemässe Witze
Ich prokrastiniere auf dem Balkon, derweil ein Gärtner vor dem Nebenhaus einen Baum seiner Äste beraubt. Der Mann bückt sich, und mir fällt meine erste Lieblingskolumne ein: «Das Arschkässeli» von Michèle Roten. Die Geschichte erschien schätzungsweise in den frühen nuller Jahren und ging etwa so: Die Kolumnistin sitzt in der Bar. Dort sieht sie einen Mann, dem die Hose so weit runterrutscht, dass sie ihm einen Fünfliber in den Kässelischlitz stecken könnte. Ich fand das damals genial. Und heute möchte ich auch mal wieder was Lustiges schreiben.
Warum auch nicht. Die Hauptinspirationsquelle unserer Zeit, das Internet, quillt ja über von Lustigkeiten. Zum Beispiel Videos von sogenannten Coronademos. Da gibt es Comedians, die todernst behaupten, die Teststäbchen würden in Wahrheit die Liebesfähigkeit der Menschen prüfen und ihnen knusprige Chips implantieren.
Oder andere, die selbstbemalte Pappkartons schwingen mit der Aufschrift «Spread the Virus of Love». Wieder andere sagen es der Kamera direkt ins Gesicht, dass sie keine Nazis an der Demo gesehen hätten; im Hintergrund winken ein Dutzend Zaunpfähle in Schwarz-Weiss-Rot. Freundinnen ohne Ariernachweis, die versehentlich in einen solchen Saubannerzug hineingeraten waren, fanden es natürlich auch zum Wiehern.
Ein anderer Witz ging kürzlich auf Facebook um – von der Polizei Fribourg. Deren Scherzkeks ist wohl einigen gefährlich im Hals stecken geblieben: Das PDF wurde mittlerweile gelöscht, und die Polizei entschuldigte sich für die «Panne». Getarnt als Infoblatt mit «Präventionsratschlägen» punkto «sexuelle Gewalt an Frauen» gilt der erste ungläubige Lacher der Bebilderung: Das Foto zeigt eine Faust, die mit erdigen Fingern einen blonden Puppenkopf zerquetscht. «Barbie, lass dich nicht vergewaltigen!» wäre ein passender Titel.
Die «Tipps für den Schutz» lauten zum Beispiel: «Gehen Sie nachts nur auf gut beleuchteten Wegen» und «Halten Sie Ihren Schlüssel bereit» – oder wie wir als Mädchen von unseren Müttern gelernt haben: Ein zackiger Veloschlüssel zwischen geballten Fingern ist ein halber Schlagring. Einmal zu Hause angekommen, ist Barbie aber mitnichten sicher: «Lassen Sie Fremde nicht erkennen, dass Sie als Frau allein leben (Vorhänge zuziehen und Rollläden schliessen).»
Der Witz funktioniert, weil die Verfasser den Begriff «Prävention» ad absurdum führen. Vorbeugende Massnahmen adressieren naturgemäss das ursächliche Problem: in diesem Fall potenzielle Gewalttäter. Es bedeutet zum Beispiel, Jungen so zu erziehen, dass sie nicht denken, Frauen seien Beute. Oder am Stammtisch das einfache Mantra «Nein heisst Nein» im Kanon zu singen.
Schutzmassnahmen gegen ein Virus (Abstand halten und Maske tragen) eignen sich nicht im Kampf gegen frauenfeindliche und rechtsextreme Gewalt. Je mehr Witzfiguren wir durch unsere Strassen ziehen lassen, in deren Windschatten Naziflaggen verdächtig flattern, desto realer und alltäglicher wird das Szenario «Panne» für einen Grossteil der Bevölkerung: Alle ausser offensichtlich weissen männlichen Heten werden aufgerufen, sich hinter gepanzerten Jalousien zu verstecken.
Dort dürfen sie dann herzlich über die Covidioten lachen.
Michelle Steinbeck ist Autorin und Kolumnistin.