Erwachet!: Saubanner

Nr. 46 –

Michelle Steinbeck beobachtet falsche Gewissheiten in pochenden Herzchen

«Ihr seid so krass», schreibt ein befreundeter Autor aus Österreich. Er ist gerade für ein paar Lesungen nach Zürich gereist, die zu seiner Verwunderung stattfinden, und sieht nun mit eigenen Augen, wie wir die zweite Welle reiten: draufgängerisch, jodelnd, Kuhglocken schwingend!

Ja, die eidgenössische Lüge ist zurück: Nichts und niemand schreibt uns etwas vor – kein römisches Reich, kein Brüssel, schon gar kein «China-Virus». Das hat Tradition: Seit dem Mittelalter sind wir Eidgenossen weitum gefürchtet und begehrt, wir gelten als die hartgesottensten Söldner. Als brachiales Bauernvolk scheissen die Eidgenossen auf ritterliche Etikette, ihre Signature Moves sind Saubannerzüge und Gewalthaufen. Für Bares tun sie alles – keulen hinterrücks fremde Ritter wie eigene Brüder ab. Nationalheld wird, wer auf das eigene Kind schiesst. Erst als die leidigen «zivilisierten» Zeiten anbrachen, in denen Blutvergiessen keine legitime Freizeitaktivität mehr war, musste ein narratives Mäntelchen her, auf dessen Rücken mit goldenem Faden aufgestickt prangt: Unabhängigkeit! Und klein gedruckt: Im Namen der heiligen Finanzwirtschaft. Darüber geht strahlend die SVP-Sonne auf.

Ein paar extremen Heldinnen und Kämpfern der eidgenössischen Werte reicht aber selbst die daraus resultierende derzeitige Laissez-faire-Gefährdung nicht. Sie gehen auf die Strasse, um ihr ausgerufenes Menschenrecht, keine Maske zu tragen, zu verteidigen – das Recht, anderen Menschen das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit zu verwehren. Dazu schwingen sie Schweizerflaggen, singen die Nationalhymne, formieren sich zu einem Mandala und weinen um ihre verletzten Menschenrechte.

Ein paar Meter weiter sitzen wir helvetischen Hipster vor dem Beck John Baker und nippen amüsiert an unseren Samstagnachmittagsgetränken. Wir geben Autogramme für mehr Klimaschutz, und der junge Unterschriftensammler sagt mit Blick auf den Saubannerzug: «Also ich finde es gut, dass wir in einem Land leben, wo alle öffentlich ihre Meinung sagen können.» Weniger gut findet das offenbar ein Punk, der zwei Demoteilnehmer in den Eingang des «Baker» treibt und diesen mit einem herumstehenden Geschirrwagen blockiert. «Hilfe, Polizei!», ruft der Punk, «das sind Coronaleugner!» Die schmächtigen Familienväter können weder vor noch zurück – weil sie keine Maske tragen, dürfen sie nicht in den Beck rein. Sie stehen da in ihren Windjacken und Trekkingschuhen und kichern wie Schulbuben über ihren aufregenden Ausflug in die Stadt. Im pochenden Herzchen die falsche Gewissheit: Wir verteidigen die Tradition unserer Gründerväter!

Tatsächlich ist die angebliche Unabhängigkeit auch heute eine Farce: Weder «das Volk», das sich derzeit auf Schweizer Boden massenhaft eigenverantwortlich anstecken darf, noch Onkel Dagobert Maurer in unserer eidgenössischen Schatzkammer, noch der Bundesrat, zu dem er gehört, sind so unabhängig, wie behauptet wird. Tatsächlich handeln wir alle im durchgesetzten Interesse des Wirtschaftsdachverbands, der wiederum im Interesse der Grosskonzerne handelt, die lieber keine höheren Steuern zahlen wollen. Was das für ein Verein ist, wissen wir spätestens, wenn sie sich etwa zu Nöten besonders Niedrigverdienender äussern: «Auch sie müssen ihren Beitrag leisten.»

Michelle Steinbeck ist Autorin. Vor kurzem erschien ihr Hörspiel über den Schwabenkrieg, wie er wirklich geschah..