Erwachet!: Tortenschlachten
Michelle Steinbeck liest Kuchenrezepte
Letzthin habe ich auf dem Flohmarkt mein liebstes Bilderbuch aus der Kindheit gefunden: Betty Bossis «Kuchen, Cakes & Torten». Die Verkäuferin lobte die gute alte Zeit, wo ihr diese Ringhefte noch für einen Fünfliber aus der Hand gerissen wurden. Ich gab zu bedenken, dass dieses Original schon gut amortisiert wirke – besonders die Linzertorte, der Mississippi Cake «mit dem interessanten Innenleben» und das «lustige Rüeblibeet» scheinen oft und gern grosszügig gerührt worden zu sein. Über dem Rezept für «Schokoladentorte Surfin» klebt ein guter Teil des Teigs – am Vergilbungsgrad des Papiers geschätzt seit einigen Jahrzehnten.
Die grösste Überraschung entdecke ich aber erst zu Hause – auf der letzten Seite, noch vor den abtrennbaren rosaroten Bestellkarten. Die hat die frühere Besitzerin gleich beide säuberlich ausgefüllt. Sie wünscht sich das Jahresabonnement für die «Betty Bossi Zeitung» und mehrere Bücher aus der Reihe. Kreuze für «Kochen für Gäste», «100 Wunderrezepte», «Alltagsrezepte mit Pfiff» und schliesslich fürs teurere «Spezialkochbuch: Schlank, fit & gesund». Aber das ist nicht alles: Auf der gegenüberliegenden letzten Seite prangt eine Botschaft. Zwischen den Zeilen stehen folgende Worte aus blauem Kuli, je einzeln untereinander: «Genau – jetzt – ist – genug – mir – reichts. – O.K.»
Ich lese die Nachricht wieder und wieder. Okay. Dieser Kauf hat sich gelohnt. Die drei Fragezeichen in mir sind geweckt: Wer war diese Frau? Die Bestellkarten hat sie zuerst mit Bleistift ausgefüllt und bei Anrede «Frl.» angekreuzt, mit dem Kugelschreiber dann «Frau». War sie frisch verheiratet – und schon desillusioniert? Offenbar hegte sie Ambitionen für Wunderrezepte, aber die Bestellung hat sie nie abgeschickt. Was hat sie abgehalten? Was war genug, warum «genau jetzt»? Und wann passierte diese Zäsur: vor oder nach der Surfin-Sauerei? Hat sie das Heft mit der Nachricht nach Jahren hingebungsvoller Kuchenbackerei und sonstiger Arbeit aus Liebe offen liegen gelassen und ist für immer gegangen? Hat ihr Mann es gefunden und verstanden – oder ist diese Seite der Schlüssel für einen nie gelösten Vermisstenfall?
Frauen von heute können sich über so etwas ja nicht mehr beklagen. «Männer helfen immer mehr im Haushalt», titelte etwa kürzlich SRF. Um sich schleunigst zu korrigieren und das unbeholfene «helfen» durch ein quasi emanzipiertes «sich beteiligen» zu ersetzen. Der Titel ist jedoch irreführend: Der Artikel berichtet von den neuen Zahlen des Bundesamts für Statistik, die besagen, dass 2020 Frauen in der Schweiz fünfzig Prozent mehr unbezahlte Arbeit geleistet haben als Männer.
Dabei behauptet die Tendenz: Männer kürzen ihr Pensum in der Lohnarbeit und Frauen stocken ihres auf. Fazit? Alle arbeiten immer mehr! Auf der Strecke bleibt vor allem eins: Freizeit. Schöne neue Welt. Frauen bleiben wohlbemerkt auch hier die Überfliegerinnen; sie schlagen die fleissigen Helfer gleich um drei Nasen. Während Männer ihre Gesamtarbeitszeit (bezahlt und unbezahlt) im letzten Jahr um eine Stunde wöchentlich erhöhten, legten die Frauen im Schnitt ganze vier Stunden mehr hin. Wir müssen uns also nicht wundern, wenn in der nächsten Zeit ein paar aufgeschlagene Kochbücher im Durchzug flattern – oder im Juni Transparente am feministischen Streik.
Michelle Steinbeck ist Autorin und Verfechterin von Musse und Kuchen.