Kost und Logis: Tausend Ängste und eine zu viel

Nr. 36 –

Ruth Wysseier über den Weg zur Hölle

Als es neulich spätabends im Garten raschelte, fürchtete ich, es könnte der Fuchs sein, der sogar am helllichten Tag durch unseren Garten streift und sicher Räude oder Staupe oder sonst eine bedrohliche Krankheit hat. Im Rückblick ist mir diese Angst peinlich, wie die kindliche Furcht vor den Monstern unter dem Bett. Trotzdem finde ich es völlig in Ordnung, sich zu fürchten. Angst rettet uns das Leben, wenn wir uns auf dem eisigen Grat anseilen oder bei Sturm eine Schwimmweste tragen. Wer nie Angst hat, ist fantasielos oder dumm.

Der Basler Psychologe Charles Benoy sagte vor ein paar Wochen in der WOZ, seit Beginn der Pandemie beobachte er einen starken Anstieg seelischer Nöte. Das Hirn scanne die Umwelt ständig nach Gefahren; wenn sich die äussere Ordnung verändere, sei das Hirn alarmiert. Veränderungen, die weder richtig kontrollierbar noch einschätzbar seien, lösten Stress aus. Also alles klar: Wer in diesen Zeiten ängstlich und gestresst ist, reagiert normal. Viele verspüren auch sehr reale Existenzängste, sie verlieren ihre Stelle, ihr Geschäft geht pleite, sie haben als Freischaffende keine Auftrittsmöglichkeiten mehr.

Ich fürchte nicht nur den Fuchs, sondern auch weit entfernte Entwicklungen: Sind die USA bald ein neofaschistischer Staat? Können Menschen tatsächlich so unmenschlich sein, dass sie nachts Flüchtlinge in schäbigen Booten wieder auf dem Meer aussetzen? Je mehr Nachrichten über Umweltkatastrophen, erodierende Demokratien und wachsende Armut ich konsumiere, desto wütender und gleichzeitig apathischer werde ich.

In Deutschland wachse die Angst vor einer Coronaansteckung, berichtete die ARD gegen Ende August, als die Zahl der Neuinfektionen wieder angestiegen war. Ein Drittel der Befragten äusserten sehr grosse oder grosse Sorgen, dass sie sich selbst oder Familienmitglieder mit dem Virus anstecken könnten. Das finde ich beruhigend, nachdem ich so viel über die Anti-Masken-Volksaufläufe gelesen habe.

In der Schweiz förderte eine Studie der CSS-Versicherung hingegen zutage: Nur 0,6 Prozent der 4200 Personen stufen Covid-19 als die Krankheit ein, vor der sie sich am meisten fürchten. Soll ich den Befragten misstrauen oder der Umfrage? Ganz unvernünftig scheint dann doch nicht, dass sie sich viel mehr vor Krebs oder Herz-Kreislauf-Problemen ängstigen, sind das doch die weitaus häufigsten Todesursachen.

Wirklich gruselig ist die Geschichte des von der WOZ porträtierten Snowboarders Nicolas Müller. Der Sportler ist ohne Plan und Absicht in der Verschwörungsszene gelandet und postete so üble Ansichten, dass sich alle Sponsoren von ihm trennten. Algorithmen sozialer Netzwerke spielten dabei eine zentrale Rolle, weil sie immer extremere Inhalte empfehlen, um Menschen möglichst lange zu fesseln und die Werbeeinnahmen zu erhöhen. Wenn sich falsche Behauptungen im Netz schneller verbreiten als das Virus, ist die geistige Gesundheit der Menschheit in allergrösster Gefahr.

Ruth Wysseier ist Winzerin am Bielersee.